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Im Labyrinth der Menschwerdung: Luc Boltanskis “Soziologie der Abtreibung“. Eine konstruktive Kritik aus der Sicht philosophischer Anthropologie

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Haucke, K. Im Labyrinth der Menschwerdung: Luc Boltanskis “Soziologie der Abtreibung“. Eine konstruktive Kritik aus der Sicht philosophischer Anthropologie. Sociologia Internationalis, 46(2), 183-215. https://doi.org/10.3790/sint.46.2.183
Haucke, Kai "Im Labyrinth der Menschwerdung: Luc Boltanskis “Soziologie der Abtreibung“. Eine konstruktive Kritik aus der Sicht philosophischer Anthropologie" Sociologia Internationalis 46.2, , 183-215. https://doi.org/10.3790/sint.46.2.183
Haucke, Kai: Im Labyrinth der Menschwerdung: Luc Boltanskis “Soziologie der Abtreibung“. Eine konstruktive Kritik aus der Sicht philosophischer Anthropologie, in: Sociologia Internationalis, vol. 46, iss. 2, 183-215, [online] https://doi.org/10.3790/sint.46.2.183

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Im Labyrinth der Menschwerdung: Luc Boltanskis “Soziologie der Abtreibung“. Eine konstruktive Kritik aus der Sicht philosophischer Anthropologie

Haucke, Kai

Sociologia Internationalis, Vol. 46 (2008), Iss. 2 : pp. 183–215

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1Dr. Kai Haucke, Am Sportplatz 7a, D-15806 Glienick.

Abstract

Auch drei Jahrzehnte nach ihrer Legalisierung, so berichten viele befragte Frauen, ist die Option Abtreibung nichts, was sie ungebrochen als Teil ihrer Freiheit erfahren. Boltanski versucht mit seiner “Soziologie der Abtreibung“ diesen Befund vor dem Hintergrund des neuen Kapitalismus zu verstehen. Strafrechtliche Duldung und gleichzeitige moralische Disqualifizierung dieser Praxis sind für ihn Ausdruck einer Spannung im Prozess menschlicher Zeugung – ein universeller Widerstreit, der erst durch die Legalisierung der Abtreibung und die Ausdehnung der kapitalistischen Projektkultur deutlich erkennbar wird. Seine These ist, dass sich Abtreibung moralisch nicht legitimieren lasse, gleichzeitig aber ein für die soziale Menschwerdung unvermeidliches Übel sei. Boltanski entwickelt mit einer strukturalistischen “Grammatik der Zeugung“ ein komplexes Argument, das der vorliegende Aufsatz detailliert nachvollzieht und kritisch prüft. Aus der Sicht einer philosophischen Anthropologie erweist sich diese Konstruktion in mehrfacher Hinsicht als problematisch: ihr entgeht die wertschöpfende Kraft des Leibes; ihr fehlt ein Begriff von Personalität, mit dem sich die prekäre Integrität von Schwangeren angemessen beschreiben ließe; und sie beansprucht zu Unrecht eine Neutralität hinsichtlich der Frage, ob menschliche Föten Personen seien. Diese Kritik ist zugleich konstruktiv, da sie Argumente aufdeckt, mit denen sich Boltanskis These erfolgreich begründen lässt. Und noch etwas leistet der Rekurs auf die philosophische Anthropologie. Durch sie werden die anthropologischen Grenzen sichtbar, an die jeder Versuch stößt, das Leben als ein Projekt zu gestalten. So wird verständlich, warum die Freiheit zur Abtreibung für die Frauen ambivalent bleibt und ebenso die Erfahrungen von Ohnmacht und Leiden einschließt.

Abstract

Even three decades after its legalization, abortion is still an option which women do not necessarily experience as a constituent of freedom. In his “La condition foetale: Une sociologie de l'avortement et de l'engendrement“ (Paris 2004), Boltanski discusses this fact in light of the new kind of capitalism. Morally unjustifiable but tolerated by law, the practice of abortion indicates, according to him, a tension in the process of human procreation, that is, a universal conflict which has become visible only recently, due to abortion's legalization as well as the proliferation of the specifically capitalist culture of the ‘project‘. Boltanski maintains that abortion is a necessary evil of social anthropogenesis although not legitimizable in moral terms. This essay examines Boltanski's structuralist ‘grammar of procreation‘ thoroughly from the perspective of philosophical anthropology, pointing out three shortcomings as a result. Firstly, the moral relevance of corporeality itself which escapes Boltanski's attention; secondly, the lack of a concept of personhood which would allow for grasping the precarious integrity of pregnant women; and thirdly, Boltanski's problematic claim to neutrality with respect to the issue of the foetus as person. However, the reference to philosophical anthropology is also constructive. Insofar as it highlights the anthropological limits of designing one's life as a ‘project‘, it reveals not only arguments which support Boltanski's theory, but also illuminates why women still have ambiguous feelings about their freedom to abort.