Abstract

Eine starke Verfassung bewährt sich in der Krise. Aufgabe einer umsichtigen Verfassungsjudikatur ist es in diesem Zusammenhang, den Geltungsanspruch der Verfassung im Wege der Exegese näher zu konturieren und verfassungsrechtlichen Grundsatzpostulaten zur bestmöglichen Geltung zu verhelfen. Dies gilt auch für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf die Auslegung des Grundgesetzes im Lichte unionsrechtlicher und völkerrechtlicher Postulate.

In seinem jüngst ergangenen Beschluss vom 16. 12. 2021, 1 BvR 1541/20, hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit der Rechtsfrage zu befassen, ob Menschen mit Behinderungen im Falle einer sog. Triage, also einer Auswahlentscheidung in der medizinischen Versorgung aufgrund eines Kapazitätsengpasses, durch den Gesetzgeber ausreichend vor einer unzulässigen Diskriminierung geschützt sind. Dies hat das Bundesverfassungsgericht zum Entscheidungszeitpunkt verneint. Auf der Grundlage positiver, aus bestimmten Grundrechten zu gewinnender Schutzpflichten ist eine Verpflichtung des Bundesgesetzgebers erkannt worden, legislativ nachzubessern, um künftig einen wirksamen Diskriminierungsschutz von Menschen mit Behinderungen zu erzielen.

Der Verfasser stellt die zuvor näher bezeichnete „Triage-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts dar und ordnet sie insbesondere unter dem Gesichtspunkt einer dogmatischen Weiterentwicklung der grundrechtlichen Schutzpflichtenlehre verfassungsrechtlich ein. Eine besondere Rolle kommt zur Gewinnung der konkreten Schutzpflicht vorliegend auch der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG unter Berücksichtigung weiterer grundgesetzlicher und völkerrechtlicher Normen zu.

A strong constitution proves itself in times of crises. In this context it is a crucial task of a circumspect constitutional jurisprudence to contour the validity of the constitution in the way of legal interpretation. Hereby basic constitutional requirements can be brought to bear. This is – under consideration of all legal norms concerning European and International law – one of the main duties of the Federal Constitutional Court of Germany as well.

In a recent court decision from December 16th, 2021, case number 1 BvR 1541/20, judges had to deal with the question whether people with disabilities are subject to an unacceptable discrimination in the case of a so called “Triage”. If the legislation could be alleged to be in omission, this will be assumed. The Federal Constitutional Court of Germany judged in this way. Based on the Doctrine of positive protection of fundamental rights the federal legislature is obliged to improve the legal framework in order to ensure an effective protection against discrimination of disabled people.

The author presents the court decision concerning the topic of “Triage”. It will be given a legal classification from the point of view of a dogmatic development concerning the Doctrine of positive protection of fundamental rights. A special role to build the positive protection comes to the constitutional guarantee of Art. 3 Sec. 3 Sentence 2 GG. Regardless of this other norms of Constitutional and International Law are important to establish the legal duty of positive fundamental rights to protect in this perspective as well.