Die Europäische Union zwischen “Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot. Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
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Die Europäische Union zwischen “Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot. Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Der Staat, Vol. 48 (2009), Iss. 4 : pp. 535–558
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1Prof. Dr. Christoph Schönberger, Universität Konstanz, Fachbereich Rechtswissenschaften, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht, Vergleichende Staatslehre und Verfassungsgeschichte, 78457 Konstanz.
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Abstract
Der Beitrag kritisiert die staatstheoretischen und verfassungsrechtlichen Prämissen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon. Das Urteil macht das strukturelle Dilemma deutlich, in dem sich das Bundesverfassungsgericht im Umgang mit Revisionen der europäischen Verträge befindet. Faktisch kann das Gericht das Inkrafttreten eines neuen europäischen Vertragswerks nicht verhindern und rechtlich dessen Interpretation im Sinne seiner Rechtsprechung nicht erzwingen. Die staatstheoretischen Prämissen des Urteils sind vor allem deshalb problematisch, weil das Gericht einen einheitsstaatlichen Interpretationshorizont zugrunde legt, der allen Formen föderativer Staatenzusammenschlüsse unter Einschluss der Bundesstaaten nicht gerecht werden kann und damit erst recht die Europäische Union verfehlen muss. Dem entspricht auf der Ebene der Demokratietheorie, dass das Gericht die parlamentarische Mehrheitsdemokratie nach dem britischen Westminster-Modell zu einem universellen “staatlichen“ Standard stilisiert, den es dann nachdrücklich mit dem “nichtstaatlichen“ Institutionengefüge der Europäischen Union kontrastiert. Dieses Modell passt aber bereits etwa für die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf Verhältniswahlrecht, Vielparteiensystem, Koalitionsregierungen und die hemmende Bedeutung des Bundesrates nicht. Ähnlich problematisch ist es, dass das Gericht einen angeblich universellen “staatlichen“ Standard der Wahlrechtsgleichheit behauptet, dem die nationale Kontingentierung der Sitze im Parlament der “nichtstaatlichen“ Europäischen Union nicht entspreche. Das Gericht übergeht dabei, dass dieser Standard in traditionellen Bundesstaaten wie den USA und der Schweiz bei der Staaten- wie auch der Bürgerkammer ebenfalls erhebliche föderative Modifikationen erfährt. Die Europäische Union gilt dem Gericht als “überföderalisiert“, ohne dass es irgendeinen Begriff von “Föderalisierung“ hätte. Seine Bundesstaatsblindheit krönt das Gericht mit der verfehlten Ableitung eines Verbots der zukünftigen Gründung eines europäischen Bundesstaates aus Art. 79 Abs. 3 GG. Da es die Vielfalt bundesstaatlicher Organisationsformen gar nicht erst in den Blick nimmt – “den Bundesstaat“ gibt es nicht – und ihm jegliche allgemeine Kategorien für die Strukturen föderativer Staatenzusammenschlüsse fehlen, besitzt diese Ableitung keine sachliche Überzeugungskraft. Sie ist Ausdruck des bedauerlichen Rückzugs des Gerichts in eine ängstliche Defensive, die auf eine selbstbewusste Mitgestaltung des europäischen Einigungsprozesses verzichtet.