Bundeskanzlerermessen im Verfassungsstaat
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Bundeskanzlerermessen im Verfassungsstaat
Schriften zum Öffentlichen Recht, Vol. 1125
(2009)
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Abstract
"Ermessen" ist ein Rechtsbegriff, dessen Herkunft und primäres Anwendungsgebiet im Verwaltungsrecht liegt. Das Bundesverfassungsgericht verwendet den Terminus in einigen bedeutenden Urteilen, um seine Nachprüfungskompetenz gegenüber den staatsleitenden Regierungsorganen abzugrenzen. Diese Begriffsübertragung markiert eine besondere Schnittstelle zwischen Verwaltungs- und Verfassungsrecht, die es zu hinterfragen gilt: Ob und unter welchen Voraussetzungen eignet sich Ermessen zur Erfassung von Entscheidungsspielräumen der Bundesregierung und des Bundeskanzlers? Und wie verhält sich ein "Bundeskanzlerermessen" zu der Vielzahl anderer Begriffe - Gestaltungsspielraum, Einschätzungsprärogative oder Beurteilungsspielraum -, welche die Grenzen der Rechtsbindung von Verfassungsorganen umschreiben?Christian Tobias Roth untersucht zunächst verschiedene Formen von Injustiziabilität im Regierungsbereich und grenzt sie gegenüber dem Ermessen ab. Eine Auswertung höchstrichterlicher Urteile erschließt sodann die Funktion und den abstrakten Bedeutungsgehalt der in der Rechtsprechung anzutreffenden Begriffe. Ausgehend vom Verwaltungsrecht erörtert der Autor die Struktur von Ermessen und identifiziert es als eine von Normenhierarchie und Entscheidungsträger unabhängige Beschränkung richterlicher Kontrolle. Dieser Befund erlaubt nicht nur seine Transformation in das Verfassungsrecht; verfassungsrechtlich erscheint sie sogar geboten. Ermessen kann hier dazu beitragen, die Sphären des Rechts und der Politik in weiten Teilen kommensurabel zu gestalten. Gleichwohl verbietet sich eine Gleichsetzung mit einer lediglich durch den Verfassungsrahmen negativ begrenzten politischen Gestaltungsfreiheit. Am Beispiel der Art. 64, 65 und 68 GG untersucht der Autor die verschiedenen Entscheidungskategorien anhand konkreter Normen und praktisch relevanter Konstellationen. Die Frage nach einem gubernativen oder einem "Bundeskanzlerermessen" ist zugleich die Frage nach den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie wird im letzten Kapitel unter Einbeziehung der gewonnenen Erkenntnisse beleuchtet.
Table of Contents
Section Title | Page | Action | Price |
---|---|---|---|
Vorwort | 7 | ||
Inhaltsverzeichnis | 9 | ||
A. Einleitung | 15 | ||
B. Historische Einordnung und inhaltliche Abgrenzung politischen Ermessens | 19 | ||
I. Die Theorien von den Regierungsakten und politisches Ermessen aus historischer Perspektive | 19 | ||
II. Faktische und prozessuale Injustiziabilitäten − Abgrenzung zum Ermessen | 26 | ||
1. Unterlassen einer Klage aus politischen Gründen | 27 | ||
2. Verfahrensrechtliche Injustiziabilität | 27 | ||
a) § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO | 27 | ||
b) Art. 93 Abs. 1 GG | 29 | ||
c) Gesetzliche Ausnahmen | 31 | ||
III. Ausschluss des Rechtswegs und Ausgestaltung der Rechtsbindung | 32 | ||
C. Gubernative Entscheidungsspielräume in der Rechtsprechung | 34 | ||
I. Einteilung nach Sachbereichen | 35 | ||
II. Einteilung nach Entscheidungsspielräumen | 37 | ||
1. Politisches Ermessen | 37 | ||
a) Außenpolitischer Initiativbereich der Regierung | 37 | ||
b) Verteidigungspolitik | 38 | ||
c) Verfassungsrechtliche Gebote | 39 | ||
d) Verfassungsrechtliche Schutzpflichten | 39 | ||
e) Staatsorganisationsrecht | 40 | ||
f) Ergebnis | 41 | ||
2. Gestaltungsspielraum | 42 | ||
3. Einschätzungsprärogative | 43 | ||
a) Außen- und Verteidigungspolitik | 43 | ||
b) Risikoentscheidungen im innenpolitischen Bereich | 44 | ||
c) Ergebnis | 45 | ||
4. Beurteilungsspielraum | 46 | ||
III. Typisierung der Entscheidungsspielräume | 47 | ||
IV. Entscheidungsäquivalenz zwischen Legislative und Gubernative | 50 | ||
V. Entscheidungsspielräume als objektiv-rechtliche Kompetenzgrenzen | 51 | ||
VI. Kontrollmaßstäbe und Kontrolldichte | 51 | ||
1. Rechtsbindung der politischen Organe | 51 | ||
2. Rechtsbindung der Judikative | 52 | ||
3. Politische Kontrolle als Surrogat gerichtlicher Kontrolle | 56 | ||
VII. Ergebnis | 57 | ||
D. Ermessen im Allgemeinen Verwaltungsrecht | 58 | ||
I. Verfassungsrechtliche Fragen des Ermessens | 58 | ||
II. Voraussetzungen und Inhalt des Ermessens | 59 | ||
III. Rechtliche Bindungen der Ermessensentscheidung | 61 | ||
IV. Folgerungen für die gerichtliche Nachprüfung von Ermessensentscheidungen | 63 | ||
V. Ansätze und Kritik einer Kategorisierung administrativer Letztentscheidungsrechte | 65 | ||
1. Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff | 65 | ||
2. Weitere Kategorisierungsansätze | 68 | ||
a) Planungsermessen | 68 | ||
b) Gestaltende Verwaltung | 70 | ||
3. Einheitstheorien | 72 | ||
VI. Zugrunde gelegte verwaltungsrechtliche Begriffsbedeutungen | 73 | ||
1. Beurteilungsspielraum | 73 | ||
2. Ermessen | 74 | ||
3. Gestaltungsfreiheit | 74 | ||
E. Verwaltungsrechtliche Entscheidungskategorien im Verfassungsrecht? | 75 | ||
I. Übertragbarkeit des Ermessensbegriffs | 75 | ||
1. Kritik und Ablehnung einer Begriffsübertragung | 75 | ||
2. Anerkennung des Ermessens als verfassungsrechtliche Entscheidungsform | 77 | ||
3. Politisches Ermessen als Unterfall eines einheitlichen Ermessensbegriffs | 80 | ||
II. Voraussetzungen und Grenzen einer Begriffsübertragung | 82 | ||
1. Die Stufentheorie des Rechts und ihre Rezeption in der zeitgenössischen Rechtswissenschaft | 82 | ||
2. Differenzierende Konzeptionen | 86 | ||
a) Freie und gebundene Staatstätigkeit | 87 | ||
b) Diskussion unter Geltung des Grundgesetzes | 89 | ||
c) Entscheidungskategorien nach den differenzierenden Ansätzen | 91 | ||
F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume am Beispiel der Regierung | 95 | ||
I. Unterscheidung zwischen Entscheidungsspielräumen und Organfunktion | 95 | ||
II. Rechtsbindung der Regierung | 96 | ||
III. Die Verfassung des Grundgesetzes als Rahmenordnung | 97 | ||
IV. Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Determination staatlicher Entscheidungen | 101 | ||
1. Differenzierung zwischen formellen und materiellen Maßstäben | 101 | ||
2. Materiell-rechtliche Doppelfunktion der Verfassung | 102 | ||
3. Folgerungen für das Verhältnis von Recht und Politik | 105 | ||
V. Korrelation der Entscheidungsstruktur mit der Qualität der Rechtsbindung | 107 | ||
1. Abgrenzung und Exklusivität zwischen Vollzug und Zwecksetzung | 108 | ||
2. Relativierung der Abgrenzung unter dem Aspekt der Allgemeinwohlverpflichtung? | 113 | ||
3. Zuordnung des Ermessens nach den entwickelten Kriterien | 115 | ||
VI. Ergebnis: Abgrenzung zwischen Gestaltungsfreiheit und Ermessen | 116 | ||
VII. Voraussetzungen und Erscheinungsformen von Gestaltungsfreiheit | 117 | ||
1. Legislative und gubernative Gestaltungsfreiheit | 117 | ||
2. Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen | 119 | ||
3. Grenzen des parlamentarischen Zugriffsrechts | 121 | ||
4. Strukturelle Äquivalenz legislativer und gubernativer Entscheidungen | 124 | ||
5. Administrative Gestaltungsfreiheit? | 128 | ||
G. Verfassungsrechtliche Determination gubernativer Entscheidungen | 132 | ||
I. Normspezifische Betrachtung | 132 | ||
1. Art. 64 Abs. 1 GG | 132 | ||
a) Materielles Kabinettsbildungsrecht | 132 | ||
aa) Mitsprache des Bundespräsidenten bei der Ministerernennung? | 132 | ||
(1) Rechtliches Prüfungsrecht | 133 | ||
(2) Politisches Prüfungsrecht | 133 | ||
bb) Umfang des rechtlichen Prüfungsrechts | 137 | ||
(1) Wählbarkeits- und Inkompatibilitätsvorschriften | 138 | ||
(2) Verfassungstreue des Kandidaten? | 138 | ||
(3) Keine Geltung des Art. 33 Abs. 2 GG | 139 | ||
cc) Politisches Ermessen | 140 | ||
dd) Entlassung | 141 | ||
b) Organisationsgewalt | 143 | ||
c) Politische Grenzen bei Kabinettsbildung und Kabinettsorganisation | 146 | ||
2. Art. 65 GG | 147 | ||
a) Richtlinienkompetenz | 147 | ||
aa) Tatbestandsmerkmal „Richtlinien“ | 148 | ||
bb) Beurteilungsspielraum | 149 | ||
cc) Richtlinienkompetenz und Ressortprinzip | 150 | ||
dd) Richtlinienkompetenz und Kabinettsprinzip | 151 | ||
ee) Politische Funktion der Richtlinienkompetenz | 153 | ||
ff) Politische Grenzen der Richtlinienkompetenz | 154 | ||
b) Regelungsgegenstand der Richtlinienkompetenz | 156 | ||
aa) Politik und Staatsleitung | 156 | ||
bb) Regierungskompetenz zur Staatsleitung | 157 | ||
cc) Spezielle und allgemeine Regierungskompetenz zur Staatsleitung | 158 | ||
dd) Anwendungsbereich des Art. 65 GG | 160 | ||
c) Ergebnis: Entscheidungsstruktur staatsleitender Entscheidungen | 161 | ||
aa) Richtlinienermessen | 161 | ||
bb) Gestaltungsfreiheit | 161 | ||
3. Art. 68 GG | 163 | ||
a) Normativer Gehalt des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG | 163 | ||
aa) Wortlaut | 164 | ||
bb) Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG als reine Verfahrensvorschrift? | 166 | ||
cc) Anerkennung eines materiellen Tatbestandsmerkmals in Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG | 168 | ||
(1) Entstehungsgeschichte | 168 | ||
(2) Systematik | 170 | ||
(3) Teleologie | 172 | ||
b) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts | 173 | ||
aa) Bindung an den Normzweck | 173 | ||
bb) Anforderungen an eine materielle Auflösungslage | 175 | ||
cc) Kontrollrechtliche Probleme und Kritik | 175 | ||
c) Die Stellung des Bundespräsidenten im Auflösungsverfahren | 177 | ||
d) Konkretisierung der erforderlichen Krisenlage | 179 | ||
e) Ergebnis | 182 | ||
II. Grundgesetzliche Systematik | 182 | ||
1. Grundrechte | 183 | ||
2. Staatsziele | 183 | ||
3. Grundrechtliche Schutzpflichten | 184 | ||
4. Spezialfall: Auslandsschutz | 186 | ||
5. Ergebnis | 188 | ||
H. Politische Entscheidungsspielräume als Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit | 189 | ||
I. Das Bundesverfassungsgericht als Gericht | 189 | ||
II. Die politischen Organe | 191 | ||
III. Folgerungen für das Verhältnis zwischen Judikative und Politik | 191 | ||
IV. Kontrollmaßstab, Kontrolldichte und Kontrollkompetenz | 194 | ||
V. Fehlender Kontrollmaßstab für die politische Zweckmäßigkeit | 196 | ||
VI. Die politische Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit | 197 | ||
VII. Versuch einer Kompetenzabgrenzung | 200 | ||
1. Kombination materiell-rechtlicher und funktionell-rechtlicher Kriterien | 200 | ||
2. Verpflichtung auf eine juristische Methode | 202 | ||
3. Konkretisierungskompetenz der politischen Organe | 204 | ||
4. Ergebnis | 210 | ||
VIII. Reichweite der Nachprüfung | 211 | ||
1. Formelle Rechtmäßigkeitsprüfung | 211 | ||
2. Tatsachenfeststellung/Einschätzungsprärogative | 211 | ||
3. Politisches Ermessen | 213 | ||
4. Gestaltungsfreiheit | 214 | ||
I. Schluss | 215 | ||
Literaturverzeichnis | 219 | ||
Sachwortverzeichnis | 246 |