Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Perspektive des Schuldprinzips
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Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Perspektive des Schuldprinzips
Konsequenzen neurowissenschaftlicher Forschung für das Strafrecht
Strafrechtliche Abhandlungen. Neue Folge, Vol. 177
(2006)
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Abstract
Muss sich das Strafrecht in Anbetracht der Erkenntnisse der Hirnforschung grundlegend ändern? Muss es auf eines seiner wichtigsten Fundamente, das Schuldprinzip, verzichten, als Schuldstrafrecht sogar abgeschafft werden? Diese Fragen haben in jüngster Zeit nicht nur Debatten zwischen namhaften Wissenschaftlern aus den Bereichen der Hirnforschung, der Rechtswissenschaft und der Philosophie ausgelöst. Sie stoßen auch in der Gesellschaft insgesamt auf ein breites und vitales Interesse. Diesen Fragen geht die Verfasserin in ihrer Dissertation ausführlich nach. Die Freiheitsannahmen des Schuldprinzips werden aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Perspektive betrachtet. Ungelöste, teils noch kaum wahrgenommene Probleme der sog. "automatisierten Verhaltensweisen" werden strafrechtsdogmatisch analysiert, ihre bisher allenfalls beiläufige rechtliche Behandlung wird wie die der sog. "Willkürbewegungen" anhand neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse kritisch überprüft. Diese Erkenntisse bestätigen die Abhängigkeit alles mentalen Erlebens des Menschen von neuronalen, also biologischen Vorgängen; darauf gründet die Verfasserin ihre Überlegungen. Ausführlich erörtert sie auch die vieldiskutierten "Libet-Experimente".Die Untersuchung mündet in einem gewissen Dilemma, das freilich als Aufgabe begriffen und formuliert wird: Konsequent zu Ende gedacht, lasse sich das von der Hirnforschung entworfene Menschenbild mit der personalen Schuldzuschreibung des Strafrechts nicht vereinbaren. Man werde die Grundfragen neu behandeln und irgendwann mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben in Einklang bringen müssen, mit denen die Verfasserin bestimmende Elemente des heutigen Strafrechts im Widerspruch sieht.Ausgezeichnet mit dem Joachim-Jungius-Förderpreis der Universität Rostock.
Table of Contents
Section Title | Page | Action | Price |
---|---|---|---|
Vorwort | 7 | ||
Inhaltsverzeichnis | 9 | ||
Abkürzungsverzeichnis | 16 | ||
Einleitung | 21 | ||
Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld – im Besonderen: die Handlungsfreiheit | 25 | ||
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf | 25 | ||
I. Grundzüge der Freiheitsdiskussion dargestellt am Beispiel Schopenhauers | 25 | ||
1. Willensbetätigung und Selbstbewusstsein | 27 | ||
2. Der negative Freiheitsbegriff bei Schopenhauer | 28 | ||
3. Das Abhängigkeitsverhältnis von Handlungs- und Willensfreiheit | 29 | ||
4. Folgerungen mit Blick auf deren rechtliche Relevanz | 31 | ||
II. Die rechtliche Diskussion des Freiheitsbegriffs im Überblick | 34 | ||
1. Positive Freiheit in der Außenperspektive? | 36 | ||
2. Probleme eines Begriffs des subjektiven Freiheitserlebens | 39 | ||
3. Offene Fragen logisch begründeter subjektiver Freiheit | 43 | ||
4. Normativer Freiheitsbegriff | 44 | ||
5. Zusammenfassung und Überleitung | 45 | ||
III. Spannungsfelder zwischen Handlungsfreiheit und Schuldstrafe | 45 | ||
1. Determination und moralischer Vorwurf | 46 | ||
2. Das Merkmal der Willensbetätigung in der Deliktsprüfung | 48 | ||
3. Die „Willensbetätigung“ in ausgewählten Schuldlehren | 49 | ||
a) „Die Vergeltungsstrafe in deterministischem Gewande“ nach Franz v. Liszt | 50 | ||
b) Die Charakterschuld nach Engisch | 53 | ||
c) Wesensgleichheit psychischer Strukturen nach Graf zu Dohna | 56 | ||
d) Personale Zurechnung nach Jakobs | 58 | ||
e) Strukturdeterminiertes Handeln und Verantwortlichkeit nach Kargl | 62 | ||
4. Zusammenfassung | 67 | ||
5. Exkurs: Neuere Ansätze in der deutschen Philosophie | 68 | ||
a) Personale Freiheit nach Bieri | 69 | ||
b) Minimalistische „Selbstbestimmung“ nach Pauen | 73 | ||
c) Kritik: Begriffliche Vermengung von Verantwortung und Schuld | 76 | ||
IV. Überleitung | 77 | ||
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik | 78 | ||
I. Beweisbedürftigkeit der Schuld | 78 | ||
1. Regelungsbereich des Art. 2 Abs. 1 GG | 80 | ||
a) Allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG und metaphysische Willensfreiheit | 80 | ||
b) Allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG und individuelles Freiheitserleben | 82 | ||
c) Konsequenzen für das Strafrecht | 85 | ||
2. Die Menschenwürde im Sinne des Art. 1 GG und die Schuldstrafe | 87 | ||
a) Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zur Legitimität von Strafe | 89 | ||
b) Historische Überlegungen zur Willensbetätigung als Grundlage staatlichen Strafens | 92 | ||
c) Die Grundlagen und Grundfragen der Schuldstrafe | 96 | ||
d) Grammatikalische Überlegungen zum Begriff der Selbstbestimmung | 99 | ||
3. Schuldstrafe zwischen Handlungsfreiheit und Menschenwürde | 104 | ||
a) Die Begrenzungsfunktion der Schuld für die Strafe unter dem Aspekt einer objektiven Wertordnung | 105 | ||
b) Der Mensch als Objekt der Verbrechensbekämpfung | 110 | ||
c) Zusammenfassende Thesen | 117 | ||
4. Das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG | 119 | ||
a) Normative Konstruktionen vor den Schranken des Art. 3 Abs. 1 GG | 120 | ||
b) Die subjektive Evidenz von Freiheit als Grundlage der Schuld? | 122 | ||
c) Der gesetzliche Beweis im Strafprozess | 125 | ||
d) Grenzen richterlicher Überzeugungsbildung | 126 | ||
e) Richterliche Perspektive | 131 | ||
f) Zusammenfassung | 133 | ||
II. Allgemeines zur Beweisbarkeit der Schuldfrage | 135 | ||
1. Objektivierbarkeit subjektiven Erlebens | 137 | ||
2. Erlebnisirrtümer | 138 | ||
III. Fazit und Überleitung | 140 | ||
Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld | 143 | ||
Kapitel 1: Die Handlung | 143 | ||
I. Die Handlungsqualität in der Systematik der Nichthandlungen | 143 | ||
1. Vis absoluta und Reflexe | 145 | ||
2. Verhaltensweisen im Zustand der Bewusstlosigkeit | 148 | ||
3. Das Willensproblem | 152 | ||
a) Subjektiv versus objektiv | 153 | ||
b) Normativ versus empirisch | 157 | ||
4. Zusammenfassung | 158 | ||
II. Die automatisierten Verhaltensweisen | 159 | ||
1. Erscheinungsformen automatisierter Verhaltensweisen – im Besonderen: die Spontanreaktionen | 160 | ||
2. Wille als zeitlicher Aspekt der Handlung | 162 | ||
3. Das Problem der Handlungsqualität | 163 | ||
III. Verursachung im Lichte ausgewählter Handlungslehren | 165 | ||
1. Der Handlungsbegriff um 1900 | 165 | ||
a) Naturalistische Handlungslehre (v. Liszt und Beling) | 166 | ||
b) Symptomatische Handlungslehre (Kollmann und Tesar) | 168 | ||
2. Die Entwicklung im 20. Jahrhundert | 168 | ||
a) Finale Handlungslehre (Welzel, Stratenwerth und Schewe) | 169 | ||
b) Soziale Handlungslehre (Engisch und Maihofer) | 173 | ||
c) Die „menschliche Seinsäußerung“ nach Michaelowa | 175 | ||
d) Personale Handlungslehre (Roxin und Arthur Kaufmann) | 177 | ||
e) Der kognitive Handlungsbegriff Kargls | 181 | ||
f) Der funktionale Handlungsbegriff Jakobs’ | 183 | ||
3. Zusammenfassung | 184 | ||
IV. Konsequenzen für den Schuldbegriff | 186 | ||
Kapitel 2: Vermeidbarkeit | 187 | ||
I. Vorüberlegungen | 187 | ||
1. Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens | 188 | ||
2. Nachträgliche Kontrollübernahme | 190 | ||
II. Automatisierte Verhaltensweisen und Reaktionszeit | 191 | ||
1. Die Reaktionszeit in Rechtsprechung und Literatur | 191 | ||
2. Fallbeispiele im Vergleich | 194 | ||
a) „Kleintier-Fall“ versus „Jagdhund-Fall“ | 194 | ||
b) „Fliege-Fall“ versus „Fahrertür-Fall“ | 195 | ||
3. Erklärungsansätze | 196 | ||
a) Vorhersehbarkeit und Reaktionszeit | 196 | ||
b) Aktivität innerhalb der Reaktionszeit | 197 | ||
c) Reaktionszeit und passives Verhalten | 198 | ||
4. Exkurs: Zivilrechtliche Behandlung von Reaktionszeiten | 200 | ||
III. Folgerungen | 203 | ||
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit | 208 | ||
I. Vorsatz und bewusste Fahrlässigkeit – Problemaufriss | 208 | ||
1. Die Beweisproblematik | 211 | ||
2. Automatisierte Verhaltensweisen | 213 | ||
a) Aktuelles Vorstellungsbild | 215 | ||
b) Sachgedankliches (Mit-)Bewusstsein | 216 | ||
c) Das Bewusstseinsfeld nach Schewe | 218 | ||
d) Das Wollenselement | 219 | ||
3. Zusammenfassung | 221 | ||
II. Die unbewusste Fahrlässigkeit | 222 | ||
1. Erkennbarkeit aufgrund des konkret riskanten Verhaltens | 222 | ||
a) Die visuelle Wahrnehmung als Erkenntnisquelle | 223 | ||
b) Erkenntnisse aus den Reaktionszeitfällen | 225 | ||
c) Verhältnis von Reaktion und Wahrnehmung | 226 | ||
2. Erkennbarkeit aufgrund äußerer gefahrerhöhender Umstände | 228 | ||
3. Folgerungen | 232 | ||
III. Zwischenergebnis und Überleitung | 233 | ||
Teil 3: Empirische Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften | 240 | ||
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung | 240 | ||
I. Schnittstelle zwischen Strafrechts- und Neurowissenschaft | 240 | ||
1. Bewusstseinsbegriff | 241 | ||
2. Neuronale Informationsverarbeitung | 241 | ||
a) Molekularbiologische Grundlagen | 242 | ||
b) Bildgebende Verfahren | 243 | ||
c) Die Arbeitsweise des Gehirns | 244 | ||
3. Aufmerksamkeit | 246 | ||
a) Bewusstseinskorrelierte elektrische Potentiale | 247 | ||
b) Aufmerksamkeitsprioritäten | 248 | ||
c) Motion-induced blindness | 249 | ||
4. Folgerungen für die Innenperspektive | 250 | ||
II. Die Bewusstwerdungsdauer | 250 | ||
1. Bewusste Reizverarbeitung | 252 | ||
2. Unbewusste Reizverarbeitung | 253 | ||
3. Masking/unbewusste Modifikation | 254 | ||
a) Der Crawford-Effekt | 254 | ||
b) Vorbewusste oder nachbewusste Modifikation? (Dennett und Kinsbourne) | 255 | ||
4. Der Flash-lag-Effekt | 257 | ||
a) Bewegungsextrapolation | 258 | ||
b) Latency-difference | 258 | ||
c) Motion Integration und Postdiction | 259 | ||
5. Die Antedatierung nach Libet | 262 | ||
a) Libets vergleichende Untersuchungen | 263 | ||
b) Kritik | 264 | ||
III. Konsequenzen der dargestellten Untersuchungen für die Rechtsbegriffe der „Kenntnis“ und der „Erkennbarkeit“ | 266 | ||
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen | 269 | ||
I. Ausgangslage | 269 | ||
1. Handlungsinitiierung aus psychophysiologischer Sicht 1968 (Müller-Limroth) | 270 | ||
2. Das Bereitschaftspotential (Kornhuber/Deecke) | 271 | ||
II. Automatisierte Bewegungen | 272 | ||
1. Wahrnehmung und Reaktion | 273 | ||
2. Reiz-Reaktions-Muster | 275 | ||
3. Folgerungen | 277 | ||
III. Willkürliche Bewegungen | 278 | ||
1. Das Libet-Experiment | 278 | ||
2. Diskussion | 280 | ||
a) Erlebnisinhalt | 280 | ||
b) Zeitliche Einordnung des subjektiv Erlebten | 285 | ||
c) Messung des Bereitschaftspotentials | 291 | ||
3. Ontologisch-dualistische Interpretationen | 292 | ||
a) Eccles und der selbstbewußte Geist | 293 | ||
b) Kritik | 294 | ||
c) Die Vetotheorie | 295 | ||
d) Experimentelle Überprüfbarkeit | 295 | ||
e) Empirische Einwände | 296 | ||
f) Grundsätzliche Kritik | 298 | ||
4. Identitätstheorie | 300 | ||
5. Rechtliche Einordnung | 302 | ||
IV. Folgerungen für willkürliches und unwillkürliches Verhalten | 307 | ||
Kapitel 3: Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben | 309 | ||
I. Selbstzuschreibung von Handlungen aus neurowissenschaftlicher Sicht | 309 | ||
1. Emotion und Motivation | 309 | ||
2. Entwicklung | 316 | ||
3. Zielvorstellungen | 319 | ||
4. Grenzen subjektiven Erlebens | 321 | ||
II. Exkurs: Epiphänomenalismus | 324 | ||
Teil 4: Fazit | 326 | ||
Kapitel 1: Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht | 326 | ||
I. Die willentliche Verhaltenssteuerung in der Dogmatik | 326 | ||
1. Sachliches Kriterium zur Differenzierung? | 328 | ||
a) Handlungsbegriff | 330 | ||
b) Vermeidbarkeit | 332 | ||
c) Subjektive Tatseite | 333 | ||
2. Ergebnis | 335 | ||
II. Die Willenssteuerung in der „Schuldidee“ | 337 | ||
Kapitel 2: Zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Strafe | 341 | ||
I. Schuldbegründung und Schuldausgleich | 341 | ||
1. Die Innenperspektive | 342 | ||
2. Die Außenperspektive | 343 | ||
II. Ausblick: Perspektive des Schuldprinzips | 345 | ||
Literaturverzeichnis | 349 | ||
Entscheidungsregister | 385 | ||
Verfassungsgerichtliche Entscheidungen | 385 | ||
Strafgerichtliche Entscheidungen | 386 | ||
Zivilgerichtliche Entscheidungen | 389 | ||
Sachwortregister | 390 |