Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild
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Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild
(Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Heft XII)
(1933)
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»Jurist, * 15.11.1901 Berlin, † 19.2.1982 Göttingen. (evangelisch)L. begann 1918 mit dem Philosophiestudium in Heidelberg. Hier promovierte der erst Neunzehnjährige 1921 bei Richard Thoma mit einer Arbeit über ›Fichte und den demokratischen Gedanken‹ zum Dr. phil. Nach anschließendem juristischen Studium in Heidelberg und Berlin folgten die beiden juristischen Staatsprüfungen (1922/26) und eine richterliche Tätigkeit in Berlin, zunächst als Gerichtsassessor, dann als Amtsrichter und als Landrichter am Kammergericht (1926–29). Bereits 1925 legte S. seine berühmte, von Heinrich Triepel betreute juristische Dissertation vor: ›Die Gleichheit vor dem Gesetz‹ (1952). In Vertiefung älterer Ansätze, namentlich der amerikan. und schweizer. Verfassungsjudikatur, entwickelte er die folgenreiche Lehre von der Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz, dem er damit einen neuen Inhalt gab. Die Maßstäbe, nach denen Tatbestände gerechterweise gleich oder ungleich zu behandeln sind, wollte L. zunächst dem wertgebundenen Rechtsbewußtsein der Gemeinschaft entnehmen. Unter dem Schrecken einer 1925 noch unvorstellbaren Pervertierung der Gerechtigkeitsidee modifizierte er später diese Position durch das Hervorheben unüberschreitbarer Schranken in Gestalt elementarer Menschenwürdeprinzipien. Der Gleichheitssatz enthält deshalb ein allgemeines Willkürverbot, dessen Beachtung richterlicher Kontrolle unterliegt. Damit bezog L. zugleich im Streit der Weimarer Staatsrechtslehre um die Zulässigkeit eines richterlichen Gesetzesprüfungsrechts eindeutig Stellung. Die Bestimmung des Gleichheitssatzes als Willkürverbot hat später die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nachhaltig bestimmt. Frucht einer mehrjährigen Referententätigkeit am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Ausländisches Öffentliches Recht und Völkerrecht (1926–29) war die Habilitationsschrift ›Die Repräsentation in der Demokratie‹ (1929, 1965). L. analysiert darin die qualitativen Veränderungen des Repräsentationsgedankens im Umbruch vom ›Honoratiorenparlament‹ des 19. Jh. zur Volksvertretung in der modernen Massendemokratie. Seine These, mit dem Übergang zu Verhältniswahlrecht und Parteienstaat habe die Demokratie ihren repräsentativen Charakter verloren und sich in eine rationalisierte Form der identitären, plebiszitären Demokratie gewandelt, ist vielfach auf Kritik gestoßen. Bedeutsam war, daß L. die Legitimität des Parteienstaats als Basis einer spezifischen, an die Strukturen des Flächen- und Massenstaats angepaßten Integration aller Bevölkerungsgruppen nachdrücklich betonte und damit verbreiteten Ressentiments in der deutschen Staatsrechtslehre entgegentrat. Der Auflösung dieses demokratischpluralistischen Parteienstaats durch autoritäre und totalitäre Strömungen trat er in der Endphase der Weimarer Republik leidenschaftlich entgegen.1929 folgte L. einer Berufung nach Greifswald, 1931 nach Göttingen. Wegen seiner jüd. Abkunft wurde er – nach einer Kampagne des NS-Studentenbundes – 1935 zwangsemeritiert und in die Universitätsbibliothek versetzt. 1938 emigrierte er nach England. Eine Gastdozentur in Oxford ermöglichte ihm nach zeitweiliger Internierung die Fortsetzung der wissenschaftlichen Arbeit. Ihr Ertrag ist in dem 1965 erschienenen Sammelband ›Politics and Law‹ zusammengefaßt. Die moralische Krise in Deutschland spiegelt sich darin auch in einer theologisch vertieften Reflexion über Verfassung und Herrschaftsordnung. Gemeinsam mit dem Bischof von Chichester, George Bell, versuchte L. die Alliierten von der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit dem ›anderen Deutschland‹ zu überzeugen. Durch den Zwillingsbruder seiner Frau, den Theologen Dietrich Bonhoeffer, war er eng mit der deutschen Widerstandsbewegung verbunden.1947 kehrte L. nach Göttingen zurück und nahm seine Lehrtätigkeit wieder auf. 1951 wurde ihm der neuerrichtete Lehrstuhl für Politische Wissenschaften und Allgemeine Staatslehre übertragen, den er bis zu seiner Emeritierung 1969 innehatte. Ein besonderes Wirkungsfeld eröffnete sich ihm durch seine Berufung in das neugeschaffene Bundesverfassungsgericht, dessen 2. Senat er 1951–71 angehörte. Hier hat er namentlich die Judikatur zum Parteien- und Wahlrecht sowie zum Gleichheitssatz entscheidend mitgeprägt und der Auffassung vom Status des Gerichts als eines eigenständigen Verfassungsorgans zum Durchbruch verholten (sog. Statusbericht 1952). Zahlreiche Arbeiten entwickelten frühere Gedanken unter den spezifischen verfassungsrechtlichen Bedingungen der Bundesrepublik fort. Dies gilt besonders für die 1952 erstmals erschienenen ›Strukturprobleme der modernen Demokratie‹ (31967) und das Werk ›Verfassungsstaat – Verfassungsrecht‹ (1973). In der Konsequenz seiner Auffassung lag es, den parteienstaatlichen Strukturen des demokratischen Willensbildungsprozesses Vorrang vor älteren Repräsentationselementen, etwa der Mandatsfreiheit des Abgeordneten, einzuräumen. Hier hat L. vielfach Widerspruch gefunden. Seine Rechtsprechungskommentare zum Grundgesetz (mit H.-J. Rinck, 1980) und zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz (mit R. Rupprecht, 1968, Nachtrag 1971) sind zu Standardwerken der Rechtspraxis geworden. Das thematische Spektrum der übrigen Publikationen aus der Zeit zwischen 1947 und 1981 reicht vom Arbeitsrecht über medien-, wirtschafts- und völkerrechtliche Probleme bis hin zu Fragen des Denkmalschutzes, der Wiedergutmachung, des Arzneimittelrechts, des Kommunalrechts und der Gebietsreform. Werke L.s wurden in 17 Sprachen übersetzt. Besonderes internationales Ansehen gewann das von ihm von 1951 bis zu seinem Tode herausgegebene ›Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart‹. In der Originalität und Breite seines Wissenschaftliehen Lebenswerks bezeugt sich L. als einer der bedeutendsten Staatsrechtslehrer und Politikwissenschaftler der Gegenwart.«Link, Christoph, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 117–119Abstract
»[Der vorliegenden Abhandlung] liegt die heute immer mehr Allgemeingut werdende Auffassung zugrunde, daß es eine voraussetzungslose, wertfreie Wissenschaft nicht gibt, daß jede Erkenntnis eine bestimmte Stellungnahme und Werthaltung voraussetzt, und daß insbesondere die öffentlich-rechtlichen Disziplinen in diesem Sinne einen besonderen, nämlich politischen Akzent haben. […] Unbeschadet des Wissens um die Notwendigkeit der Subjektivität ist hiernach die vorliegende Abhandlung getragen von der Intention, die so radikal veränderte, politische Wirklichkeit, soweit sie Ende vorigen Jahres bereits sichtbar war, in ihrer Eigengesetzlichkeit zu erschließen und dem Willen, die gegenwärtige Lage insbesondere der Demokratie ›strukturgerecht‹ zu erfassen. Erst eine solche Deutung der politischen Wirklichkeit ermöglicht auch, ohne daß mit den ebenso populären wie wissenschaftlich unbrauchbaren Kategorien von Schuld und Vorwerfbarkeit operiert werden muß, die strukturellen Veränderungen des künftigen Staatsbildes mit einer gewissen Verläßlichkeit aufzuzeigen.« (Aus dem Vorwort)
Table of Contents
Section Title | Page | Action | Price |
---|---|---|---|
Vorwort | 5 | ||
Inhaltsverzeichnis | 7 | ||
I. Der Begriff der Demokratie | 9 | ||
Demokratie als Staatsform | 9 | ||
Religiöse Grundlage der Demokratie | 9 | ||
Das Prinzip der Volkssouveränität | 10 | ||
Demokratie und politisch-individuelle Freiheit | 11 | ||
Die Demokratie und das Prinzip der Gleichheit | 12 | ||
Die Willensbildung in der Demokratie | 14 | ||
a) Das Prinzip der Identität | 14 | ||
b) Das Mehrheitsprinzip | 15 | ||
Mögliche politische und ökonomische Existenzformen der Demokratie | 18 | ||
II. Die liberale Demokratie | 21 | ||
Verbindung von Demokratie und Liberalismus | 21 | ||
Das metaphysische System des Liberalismus | 22 | ||
Die Grundrechte | 23 | ||
Die Freiheitsrechte im 19. Jahrhundert | 24 | ||
und in der Weimarer Verfassung | 25 | ||
Der repräsentative Parlamentarismus | 28 | ||
Das Gewaltenteilungssystem | 29 | ||
Der Rechtsstaatsgedanke in seiner klassischen Ausprägung | 30 | ||
Verschiedene Erscheinungsformen des Rechtsstaates | 32 | ||
Das politische System des Liberalismus | 34 | ||
Der politische Freiheitsbegriff des Liberalismus | 35 | ||
Der konservative Charakter der liberalen Demokratien | 37 | ||
Die Idee des Nationalstaates und die liberale Demokratie | 39 | ||
III. Die Auflösung der liberalen Demokratie | 40 | ||
Die Funktionsvoraussetzungen der liberalen Demokratie | 40 | ||
Die Relativierung der Demokratie durch den Liberalismus | 42 | ||
Die bürgerliche Gesellschaft als das Produkt des ökonomischen Liberalismus | 43 | ||
Der Bürger als „citoyen" und „bourgeois" | 45 | ||
Der Antagonismus von Staat und Gesellschaft | 45 | ||
Der Marxismus | 47 | ||
Der Staat als Produkt der Selbstorganisation der Gesellschaft | 47 | ||
Die politische Einheit des Staates in der Gegenwart | 48 | ||
Der Mangel der politisch-sozialen Homogenität als die wahre Ursache der Krise der liberalen Demokratie | 49 | ||
Die Eigengesetzlichkeit der Demokratie und ihre Wendung gegen den Liberalismus | 50 | ||
Die repräsentativ-parlamentarische Demokratie und der massendemokratische Parteienstaat | 51 | ||
Das Mehrheits- und Verhältniswahlsystem | 52 | ||
Konsequenzen aus der parteienstaatlichen Massendemokratie | 53 | ||
a) für die Führerauslese | 53 | ||
b) für die Erscheinungsformen der unmittelbaren Demokratie | 53 | ||
c) für das Verhältnis von Volk und Parlament | 53 | ||
IV. Die Umrisse des neuen Staatsbildes | 54 | ||
Das Gesetz der Polarität des Sozialen | 54 | ||
Die Wiederbelebung der politischen Metaphysik | 55 | ||
Verschiedene Ausdrucksformen politisch-religiöser Gläubigkeit | 57 | ||
Die Tendenz zur politischen Konfessionalisierung | 59 | ||
Prinzip und Legitimierung der Autorität | 60 | ||
Die plebiszitäre Unterbauung der Autorität | 61 | ||
Der autoritäre Staat | 63 | ||
Die „natürlichen" Ordnungen und Gliederungen innerhalb des autoritären Staates | 64 | ||
Entwicklungstendenzen in der Verfassungspraxis | 66 | ||
insbesondere in Deutschland | 67 | ||
Der totale Staat | 68 | ||
Die Alternative | 70 | ||
Die deutsche Lage | 72 | ||
a) die germanische Freiheitsidee | 72 | ||
b) das deutsche Bildungserlebnis | 73 | ||
c) der Protestantismus | 74 | ||
Die Reform der Weimarer Verfassung | 75 | ||
Der autoritär-totale Staat und sein Verhältnis zur Demokratie | 76 | ||
und Diktatur | 77 | ||
Demokratie und Diktatur | 77 | ||
Die souveräne Diktatur | 78 | ||
Die Diktatur und ihr Verhältnis zur Demokratie | 78 |