Freiheitsmissbrauch und Grundrechtsverwirkung
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Freiheitsmissbrauch und Grundrechtsverwirkung
Versuch einer Neubestimmung von Artikel 18 GG
Schriften zum Öffentlichen Recht, Vol. 1260
(2014)
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Eva Marie Schnelle wurde 1984 in Bremen geboren. Sie studierte Jura und Musikwissenschaft in Freiburg i. Br., Pisa und Leipzig, wo sie im Januar 2009 die Erste Juristische Prüfung mit einem rechtsgeschichtlichen Schwerpunkt ablegte. Danach war sie bis September 2011 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften (Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Battis) an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Dort promovierte sie im Dezember 2012. Seit November 2011 ist sie Rechtsreferendarin am Kammergericht mit Stationen im Bundesministerium des Innern sowie der Kanzlei Redeker Sellner Dahs.Abstract
An zentraler Stelle und dennoch vielfach unbekannt regelt das Grundgesetz in Artikel 18 die Verwirkung bestimmter Grundrechte im Fall ihres Missbrauchs zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Welche Konsequenzen eine solche Verwirkung jedoch zeitigt, lässt es offen. Auch das BVerfG, das sonst Dogmatik und Anwendung des Verfassungsrechts maßgeblich prägt, lehnte bisherige Verwirkungsanträge ohne weiterführende Begründung ab. Dessen ungeachtet hat sich die Literatur recht intensiv mit der Norm auseinandergesetzt. Neben der Lösung von Einzelfragen fehlt aber eine umfassende, sowohl theoretisch als auch praktisch überzeugende Interpretation der Norm. Sie bleibt vielmehr widersprüchlich. Warum etwa wird die Verwirkung erst durch das BVerfG ausgesprochen? Was gilt vorher und kann das Gericht mithin abstrakt über den Grundrechtsschutz des Einzelnen disponieren? In dieser Arbeit wird die These untersucht, dass erst die von der Grundrechtsdogmatik isolierte Betrachtung der Verwirkungsnorm als repressives Instrument des Verfassungsschutzes zu ihrer Unanwendbarkeit geführt hat. Versteht man Art. 18 GG dagegen lediglich als negative Facette des Grundrechtsschutzes, kann sie als weniger einschneidende Figur der Grundrechtsdogmatik fruchtbar gemacht werden.
Table of Contents
Section Title | Page | Action | Price |
---|---|---|---|
Vorwort | 5 | ||
Inhaltsverzeichnis | 7 | ||
Einleitung | 13 | ||
A. Hintergrund | 23 | ||
I. Entstehungsgeschichte | 23 | ||
1. Vorläufer von Art. 18 GG | 24 | ||
a) Landesverfassungen | 24 | ||
b) Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 | 26 | ||
c) Art. 48 Abs. 2 Satz 2 WRV | 26 | ||
2. Entstehung von Art. 18 GG | 28 | ||
3. Art. 18 GG als Abkehr vom Weimarer "Wertrelativismus" | 33 | ||
II. Frühe Rechtslehre zur "militanten Demokratie" | 36 | ||
1. Karl Loewenstein | 36 | ||
2. Karl Mannheim | 38 | ||
3. Hermann Jahrreiß | 39 | ||
III. Die Entscheidung des Grundgesetzes für die streitbare Demokratie | 40 | ||
1. Der Verfassungsschutz im Grundgesetz | 41 | ||
2. Die Rechtsprechung zur streitbaren Demokratie | 44 | ||
3. Die Literatur zur streitbaren Demokratie | 47 | ||
4. Streitbare Demokratie und sozialer Wandel | 49 | ||
IV. Legitimität des Verfassungsschutzes | 51 | ||
V. Fazit | 53 | ||
B. Voraussetzungen | 55 | ||
I. Der Tatbestand des Art. 18 GG | 56 | ||
1. Adressat der Verwirkungsnorm | 57 | ||
2. Die freiheitliche demokratische Grundordnung | 58 | ||
a) Die Auslegung des Begriffs in der Rechtsprechung | 60 | ||
b) Die Kritik an der Rechtsprechung | 60 | ||
c) Kritik an der Literatur und möglicher Interpretationsansatz | 62 | ||
3. Der Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung | 64 | ||
a) Zusammenhang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung | 64 | ||
b) Aggressives Verhalten als Voraussetzung | 66 | ||
c) Gefahr und Gefährlichkeit | 67 | ||
d) Fazit | 70 | ||
4. Der Missbrauchstatbestand | 71 | ||
a) Herkunft des Missbrauchsbegriffs | 71 | ||
b) Die "zivilistische Theorie" | 73 | ||
c) Die "spezifisch-verfassungsrechtliche Theorie" | 75 | ||
d) Kritik an der herrschenden Lehre | 76 | ||
5. Objekt des Missbrauchs | 78 | ||
C. Verfahren | 80 | ||
I. Antrag auf Feststellung der Grundrechtsverwirkung | 80 | ||
1. Das politische Ermessen der Antragsberechtigten | 80 | ||
2. Die Einleitung des Verfahrens | 85 | ||
3. Der praktische Gebrauch von der Antragsbefugnis | 90 | ||
II. Das Vorverfahren | 91 | ||
1. Ablauf der Vorprüfung | 92 | ||
2. Die Verfahren gegen Dienel und Reisz | 94 | ||
III. Die Entscheidung des BVerfG | 95 | ||
D. Verwirkung | 97 | ||
I. Begriff und rechtliche Anknüpfung der Verwirkung | 98 | ||
1. Der Begriff der Verwirkung | 98 | ||
a) Die allgemeine und die spezielle Grundrechtsverwirkung | 98 | ||
b) Funktionaler Vergleich mit dem zivilrechtlichen Verwirkungsbegriff | 100 | ||
c) Ablehnung eines spezifisch verfassungsrechtlichen Verständnisses | 102 | ||
d) Punktuelles und generelles Verwirkungsverständnis nach Gallwas | 103 | ||
aa) Das punktuelle Verwirkungsverständnis | 103 | ||
bb) Das generelle Verwirkungsverständnis | 105 | ||
cc) Kombiniertes Verwirkungsverständnis | 105 | ||
e) Das "missbrauchsbezogene Verwirkungsverständnis" als Alternative | 106 | ||
2. Rechtswirkung des Verwirkungsausspruchs | 108 | ||
a) Ablehnung der deklaratorischen Rechtswirkung der Entscheidung | 109 | ||
b) Der konstitutive Charakter der Entscheidung | 110 | ||
aa) Duplizität der Verwirkungsentscheidung | 112 | ||
bb) Vergleich mit der Rechtswirkung des Parteiverbots | 114 | ||
c) Eigener Erklärungsansatz | 116 | ||
aa) Genetisch-systematische Argumentation | 116 | ||
bb) Teleologische Argumentation: Strafprozessualer Charakter der Entscheidung | 119 | ||
d) Auswirkung auf die rechtliche Einordnung des Verwirkungsausspruchs | 120 | ||
3. Verhältnis der missbrauchten Freiheit zum verwirkten Grundrecht | 121 | ||
a) Die Identitätslehre | 121 | ||
b) Die "interne" Verwirkungsextension | 122 | ||
c) Eigene Argumentation | 125 | ||
4. Verwirkung anderer Grundrechte | 126 | ||
a) Die verschiedenen Positionen | 127 | ||
b) Lösung über die Grundrechtskonkurrenzen | 129 | ||
c) Quasi-Verwirkung der Religionsfreiheit? | 131 | ||
d) Fazit | 138 | ||
II. Die Rechtsfolgen einer Grundrechtsverwirkung | 139 | ||
1. Die Auffassungen Wernickes und v. Mangoldts | 140 | ||
a) Wernickes Lehre vom Totalverlust der Grundrechte | 140 | ||
b) Die Kommentierung v. Mangoldts | 141 | ||
c) Gleichläufigkeit der beiden Ansichten | 142 | ||
2. Die Ansicht Dürigs | 145 | ||
3. Verwirkung nur der politischen Ausübungsmodalität | 149 | ||
4. Die Verwirkung als Hindernis der Geltendmachung | 151 | ||
a) Innentheorie vs. Außentheorie | 151 | ||
aa) Die Siebertsche Innentheorie | 152 | ||
bb) Argumente für eine Außentheorie des Rechtsmissbrauchs | 154 | ||
b) Auswirkung der Außentheorie auf die generelle Verwirkungslehre | 156 | ||
c) Konturierung der Verwirkung auf der Ebene der Rechtsfolgen | 157 | ||
5. Konflikt mit anderen Grundrechtsbestimmungen | 160 | ||
a) Nichtverwirkung der allgemeinen Handlungsfreiheit | 160 | ||
aa) Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeine Handlungsfreiheit | 160 | ||
bb) Mögliche Lösungsansätze | 162 | ||
b) Nichtverwirkung des Gleichheitssatzes | 163 | ||
c) Wesensgehalt und Menschenwürdekern der Grundrechte | 166 | ||
aa) Wesensgehalt, Art. 19 Abs. 2 GG | 167 | ||
bb) Menschenwürdekern der Grundrechte | 169 | ||
cc) Parallelisierung zum Grundrechtsverzicht | 170 | ||
6. Fazit | 172 | ||
III. Systematische und dogmatische Einordnung der Grundrechtsverwirkung | 173 | ||
1. Art. 18 GG im Gefüge der Grundrechte | 173 | ||
a) Begriffliche Abgrenzungen | 175 | ||
b) Dogmatische Einordnung der Grundrechtsverwirkung | 180 | ||
aa) Art. 18 GG als Grundrechtsschranke | 181 | ||
bb) Art. 18 GG als Gewährleistungsgrenze | 183 | ||
2. Einfluss auf Grundrechtsdogmatik und Grundrechtstheorie | 184 | ||
a) Die Grundrechtsdogmatik | 185 | ||
b) Die Grundrechtstheorie | 187 | ||
3. Fazit | 191 | ||
IV. Der Vollzug der Verwirkungsentscheidung | 193 | ||
1. Folgen für Exekutive, Legislative, Judikative | 194 | ||
2. Das Allgemeinheitsgebot | 196 | ||
3. Der Vorbehalt des Gesetzes | 198 | ||
4. Verfassungswidrigkeit von § 39 Abs. 1 Satz 3 und 4 BVerfGG | 201 | ||
5. Verwirkung der Wählbarkeit und des Wahlrechts | 204 | ||
6. Verwirkung der Asylfreiheit | 209 | ||
V. Fazit | 213 | ||
E. Kontextualisierung | 216 | ||
I. Sperrwirkung von Art. 18 GG | 217 | ||
1. Die erste Phase | 218 | ||
a) Die Entscheidung des BVerfG zur Sperrwirkung | 218 | ||
b) Weitreichender Ausschluss verwirkungsähnlicher Normen nach der Literatur | 220 | ||
aa) Ausschlusswirkung nur des Tatbestandes oder nur der Rechtsfolge | 220 | ||
bb) Konturierung der Rechtsfolge | 222 | ||
cc) Parallelisierung zum Parteienprivileg | 223 | ||
dd) Art. 18 GG als Schutz gegen jegliche Eingriffe in die politische Freiheit | 224 | ||
2. Konflikt mit politischem Strafrecht und Polizeirecht | 225 | ||
a) Das strafrechtliche Berufsverbot | 226 | ||
b) Das Gefahrenabwehrrecht | 227 | ||
3. Die zweite Phase | 228 | ||
a) Weitere Entscheidungen des BVerfG | 228 | ||
b) Das OVG Münster | 231 | ||
c) Einengung der Sperrwirkung in der Literatur | 233 | ||
aa) Fruchtbarmachung der generellen Verwirkungstheorie | 233 | ||
bb) Gefahr und Prävention contra Repression | 234 | ||
cc) Utilitaristische Argumentationen | 236 | ||
d) Verwirkungsgleiche Rechtsfolgen | 237 | ||
4. Eigener Lösungsansatz | 238 | ||
a) Historische Auslegung | 239 | ||
b) Teleologische Auslegung | 240 | ||
c) Dogmatische Argumentation | 240 | ||
d) Fazit | 242 | ||
II. Verhältnis zu Art. 21 Abs. 2 und 9 Abs. 2 GG | 244 | ||
1. Art. 21 Abs. 2 GG | 245 | ||
2. Art. 9 Abs. 2 GG | 246 | ||
3. Eigene Bewertung | 248 | ||
4. Auflösung juristischer Personen | 250 | ||
III. Verhältnis zu Normen des Landesverfassungsrechts | 252 | ||
1. Art. 17 Abs. 2 LV Hessen | 253 | ||
2. Art. 146 LV Hessen | 254 | ||
3. Parallelität und Divergenz zu Art. 18 GG | 256 | ||
4. Fazit | 257 | ||
IV. Vergleich mit internationalem Recht | 258 | ||
1. Auswirkungen der Verwirkungsentscheidung auf internationale Grundrechte | 258 | ||
2. Unions- und völkerrechtliche Zulässigkeit der Grundrechtsverwirkung | 259 | ||
a) Die Akzeptanz der streitbaren Demokratie auf internationaler Ebene | 259 | ||
b) Art. 18 GG und die internationalen Missbrauchsregelungen | 261 | ||
c) Art. 18 GG im Lichte von Art. 17 EMRK | 263 | ||
3. Die Regelungen anderer Verfassungen | 265 | ||
a) Art. 25 Abs. 3 Griechische Verfassung | 266 | ||
b) Art. 14 Türkische Verfassung | 267 | ||
c) Art. 55 Abs. 2 Spanische Verfassung | 268 | ||
d) Zwischenergebnis | 269 | ||
4. Fazit | 270 | ||
F. Effektivität | 272 | ||
I. Reale Bedeutung der Grundrechtsverwirkung | 272 | ||
1. Entbehrlichkeit der Grundrechtsverwirkung? | 273 | ||
2. Insuffizienz der Grundrechtsverwirkung? | 275 | ||
3. Alternativen zur rechtlichen Extremistenbekämpfung | 278 | ||
II. Das Monopol des BVerfG | 281 | ||
G. Ausblick | 284 | ||
I. Neuinterpretation | 284 | ||
II. Neuformulierung | 292 | ||
Zusammenfassung | 294 | ||
Literaturverzeichnis | 297 | ||
Sachwortverzeichnis | 323 |