Finalität, Widerstand, »Bescholtenheit«
BOOK
Cite BOOK
Style
Format
Finalität, Widerstand, »Bescholtenheit«
Zur Revision der Schlüsselbegriffe des § 177 StGB
Schriften zum Strafrecht, Vol. 274
(2015)
Additional Information
Book Details
Pricing
About The Author
Isabel Kratzer-Ceylan ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Augsburg, Rechtsanwältin und Traumaberaterin. Sie studierte Rechtswissenschaften an der Universität Augsburg, wo sie 2004 ihr erstes Staatsexamen absolvierte. 2006 folgte das zweite Staatsexamen. Seit August 2007 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Wilfried Bottke bzw. Prof. Dr. Johannes Kaspar für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Sanktionenrecht. Ihre Dissertation wurde 2014 von der Universität Augsburg mit dem Preis der Albert-Leimer-Stiftung zur Förderung der Geschlechtergerechtigkeit ausgezeichnet.Abstract
»Finality, Resistance, ›Bad Reputation‹«The paper deals with sexual assault/rape. The comprehensive analysis highlights the historic development of § 177 StGB (German Criminal Code) and involves interdisciplinary findings (for example from psychology). On this basis the paper critically discusses the current legal situation. It becomes evident that stereotype beliefs lead to a restrictive interpretation neglecting the victim's point of view. Therefore a new understanding of § 177 StGB is necessary and in addition the sanction of all non consensual sexual acts.Isabel Kratzer-Ceylan widmet sich dem aktuell kontrovers diskutierten Tatbestand der sexuellen Nötigung bzw. Vergewaltigung. Im Rahmen einer umfassenden, im Kern dogmatischen Analyse wird unter Einbeziehung interdisziplinärer Erkenntnisse wie u.a. der Psychologie, die historische Genese von § 177 StGB beleuchtet, um auf dieser Grundlage die aktuelle Rechtslage kritisch zu erörtern. Im Verlauf der Arbeit wird hierdurch deutlich, dass der juristische Umgang mit § 177 StGB in enger Wechselwirkung mit aus heutiger wissenschaftlicher Sicht unhaltbaren Vorverständnissen bzw. Fehlvorstellungen steht. Insbesondere das stereotype Bild der »klassischen« Vergewaltigung, bei der das (unbescholtene) Opfer von einem fremden Gewalttäter überraschend angegriffen wird, führt zu einer restriktiven, die Opfersicht vernachlässigenden Auslegung des Tatbestands. Im Ergebnis legt die Autorin ein neues Verständnis von § 177 StGB nahe, wobei die Finalstruktur des Gewaltbegriffs und der Finalzusammenhang zu verabschieden sind. Darüber hinaus wird zur Schließung von unangemessenen Strafbarkeitslücken die Schaffung eines neuen Tatbestands vorgeschlagen, der alle nicht einverständlichen sexuellen Handlungen sanktioniert.Die Arbeit wurde von der Universität Augsburg mit dem Preis der Albert-Leimer-Stiftung zur Förderung der Geschlechtergerechtigkeit ausgezeichnet.
Table of Contents
Section Title | Page | Action | Price |
---|---|---|---|
Danksagung | 5 | ||
Inhaltsverzeichnis | 7 | ||
Abkürzungsverzeichnis | 13 | ||
Einleitung | 15 | ||
Erster Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs | 19 | ||
A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung aus kriminologischer und psychologischer Sicht des 21. Jahrhunderts | 19 | ||
I. Statistische Daten | 19 | ||
II. Vergewaltigungsmythen und -stereotypen | 23 | ||
III. Täter und Opfer – kriminologische und psychologische Befunde | 37 | ||
1. Täter | 37 | ||
2. Opfer | 44 | ||
B. Gesellschaftliche und geistige Grundlagen der Vergewaltigungsmythen und -stereotypen | 52 | ||
I. Den Vergewaltigungstatbestand prägende außerrechtliche, sozio-kulturelle Vorstellungen | 52 | ||
II. Gerichtsmedizin, Psychoanalyse, Sexualwissenschaft und ihr Einfluss auf das Delikt der Notzucht/Vergewaltigung | 57 | ||
1. Die Lehre von der faktischen Unmöglichkeit der Notzucht | 57 | ||
2. Schwangerschaft und sexuelle Stimulation im Kontext der Notzucht | 62 | ||
3. Die Untauglichkeit des weiblichen Belastungszeugen | 66 | ||
4. Fazit | 69 | ||
III. Kriminologie und Viktimologie im 20. Jahrhundert und der Prozess der Entmythologisierung | 70 | ||
IV. Ergebnis | 79 | ||
Zweiter Teil:Die Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung bis zum 33. StÄG vom 01.07.1997 | 81 | ||
A. Der Tatbestand der Notzucht von der Constitutio Criminalis Carolina bis zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871 | 81 | ||
I. Der Verbrechensbegriff der Notzucht | 81 | ||
II. Das Gemeine Peinliche Recht | 82 | ||
1. Constitutio Criminalis Carolina von 1532 | 82 | ||
2. Codex Juris Bavarici Criminalis von 1751 | 84 | ||
3. Das Auslegungsverständnis der Notzucht im Gemeinen Peinlichen Recht | 85 | ||
a) Das Nötigungsmittel der Gewalt | 85 | ||
b) Mit Gewalt und wider ihren Willen | 88 | ||
c) Notzucht widerstandsunfähiger Personen? | 91 | ||
III. Die Territorialgesetzgebungen des 18. und 19. Jahrhunderts | 93 | ||
1. Allgemeines Preußisches Landrecht von 1794 | 93 | ||
2. Bayerisches Strafgesetzbuch von 1813 | 94 | ||
3. Preußisches Strafgesetzbuch von 1851 | 96 | ||
4. Das Auslegungsverständnis der Notzucht in den Territorialgesetzgebungen des 18. und 19. Jahrhunderts | 97 | ||
a) Das Nötigungsmittel der Gewalt | 97 | ||
b) Das Nötigungsmittel der Drohung | 98 | ||
c) Mit Gewalt und wider ihren Willen – Unterschiede zum Gemeinen Recht? | 99 | ||
d) Tatbestandliche Erfassung des Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen zum Geschlechtsverkehr | 102 | ||
e) Entwürfe zu einer gemeinsamen Strafgesetzgebung für Deutschland | 103 | ||
B. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 | 105 | ||
I. Geschützte Rechtsgüter | 107 | ||
1. Die Sittlichkeitsordnung | 108 | ||
2. Das Rechtsgut der weiblichen Geschlechtsehre | 109 | ||
3. Rechtsgut der „männlichen“ Geschlechtsehre? | 116 | ||
4. Die geschlechtliche bzw. sexuelle Freiheit | 117 | ||
5. Ausblick – Das 4. StrRG von 1973 | 118 | ||
II. Die Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt und Drohung in § 177 RStGB | 119 | ||
1. Gewalt | 119 | ||
a) Körperliche Kraftentfaltung und Zwangswirkung | 119 | ||
b) Durch Gewalt nötigen – Ernstlicher Widerstand oder vis haud ingrata? | 123 | ||
c) Der Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und Nötigungserfolg in § 177 RStGB | 130 | ||
2. Die „Blankeneser Notzuchtsaffäre“ | 135 | ||
3. Drohung | 136 | ||
4. Eigenhändigkeit und Vorsatz | 137 | ||
5. Kritische Würdigung | 138 | ||
C. Die Reformdiskussion von 1871 bis 1945 | 140 | ||
I. Die Reformentwürfe bis 1933 | 140 | ||
1. Die vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts | 140 | ||
2. Der Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch von 1909 | 143 | ||
3. Der Gegenentwurf von 1911 | 146 | ||
4. Die Kommissionsentwürfe eines Strafgesetzbuchs von 1913 und 1919 | 147 | ||
5. Die Amtlichen Entwürfe eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1922, 1925 und 1927 | 151 | ||
6. Der Gegenentwurf des Kartells für Reform des Sexualstrafrechts | 153 | ||
7. Der Entwurf Kahl von 1930 | 157 | ||
8. Impulse aus der deutschen Frauenbewegung | 160 | ||
9. Kritische Würdigung | 162 | ||
II. Die Zeit des Nationalsozialismus | 165 | ||
1. Nationalsozialistisches Strafrecht | 165 | ||
2. Die Reformdiskussion hinsichtlich des Tatbestands der Notzucht und Nötigung zur Unzucht | 167 | ||
3. Fazit | 173 | ||
D. Die Entwicklung des Tatbestands der Vergewaltigung im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 | 175 | ||
I. Die Reformdiskussion und Gesetzgebung ab 1945 | 175 | ||
1. Die Entwürfe von 1959 und 1960 | 176 | ||
2. Der Entwurf von 1962 | 177 | ||
3. Der Alternativ-Entwurf von 1968 | 178 | ||
4. Das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts von 1969 | 181 | ||
5. Fazit | 182 | ||
II. Das Vierte Gesetz zur Reform des Strafrechts von 1973 | 182 | ||
1. Die Neugestaltung des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuchs | 182 | ||
2. Das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung | 186 | ||
III. Das 33. Strafrechtsänderungsgesetz von 1997 – ein neues Kapitel im Rahmen des § 177 StGB | 189 | ||
Dritter Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB | 195 | ||
A. Die Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt und Drohung in § 177 StGB | 195 | ||
I. Parallelstrang: Der Entnaturalisierungsprozess des Nötigungsmittels der Gewalt in den Tatbeständen der §§ 240, 249 StGB durch die Rechtsprechung | 196 | ||
1. Das Gleichgewicht verschiebt sich – von der körperlichen Kraftentfaltung hin zur körperlichen Zwangswirkung | 196 | ||
a) Der Vergeistigungsprozess im Rahmen des § 240 StGB | 197 | ||
b) Extensive Tendenzen in § 249 StGB | 202 | ||
c) Zwischenstand – physisch vermittelter Zwang ist unverzichtbar | 205 | ||
2. Aller guten Dinge sind drei – Gewalt ohne Finalität ist keine Gewalt | 207 | ||
a) Die Finalstruktur des Gewaltbegriffs | 207 | ||
b) Der Finalzusammenhang zwischen Nötigungsmittel- und erfolg im Rahmen des § 249 StGB | 212 | ||
aa) Die Zweckgerichtetheit der Nötigung | 213 | ||
bb) Der subjektive Finalzusammenhang zwischen Nötigung und Wegnahme | 217 | ||
c) Ergebnis | 224 | ||
II. Die Auslegung des Gewaltbegriffs in § 177 I StGB | 225 | ||
1. Einführung | 225 | ||
2. Körperliche Kraftentfaltung und körperliche Zwangswirkung | 229 | ||
a) Gewalt gegen eine Person? | 229 | ||
b) Verbale Einwirkungen und geringer Kraftaufwand des Täters | 231 | ||
c) Einsperren, Weg versperren, Verbringen des Opfers an einen anderen Ort | 236 | ||
d) Gewalt gegen Dritte – Dreiecksnötigung | 242 | ||
e) Die sogenannte Gewalt gegen Sachen | 247 | ||
3. Mit Gewalt nötigen – Ernstlicher Widerstand oder vis haud ingrata? | 249 | ||
III. Die Auslegung des Drohungsbegriffs in § 177 StGB | 256 | ||
1. Inhalt, Form und Adressat der Drohung | 256 | ||
2. Der Zusammenhang zwischen Nötigungshandlung und -erfolg | 261 | ||
3. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr | 262 | ||
4. Anforderungen der Rechtsprechung an konkludente Drohungserklärungen mit Ausnahme wiederholter Tatbegehungen und Serienstraftaten | 265 | ||
5. Fazit | 268 | ||
IV. Die Nötigungsmittel der Gewalt und Drohung in der Reformdiskussion bis zum 4. StrRG von 1973 | 268 | ||
V. Kritische Würdigung | 270 | ||
VI. Zwischenstand | 277 | ||
B. Das 33. StÄG – Einführung eines neuen Nötigungsmittels | 278 | ||
I. Der Weg zu § 177 I Nr. 3 StGB n.F. – abweichende Reformvorschläge | 279 | ||
II. Die Auslegung von § 177 I Nr. 3 StGB n.F. | 283 | ||
1. Schutzlose Lage | 284 | ||
2. Der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert | 290 | ||
3. Furcht vor nicht unmittelbar körperlich wirkenden Nachteilen erfasst? | 293 | ||
4. Nötigung zu sexuellen Handlungen unter Ausnutzung der schutzlosen Lage | 298 | ||
5. Anwendungsbereich des § 177 I Nr. 3 StGB n.F. – kritische Würdigung | 306 | ||
III. Fazit | 310 | ||
C. Der Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und -erfolg in § 177 StGB | 313 | ||
I. Einführung | 313 | ||
II. Final- und Kausalzusammenhang | 314 | ||
1. Fortwirkende Gewalt in Abgrenzung zur konkludenten Drohung – der (zeitliche) Zusammenhang bei zweiaktigen Delikten | 318 | ||
a) Vis absoluta und Gewalt durch Unterlassen | 318 | ||
b) Vis compulsiva | 319 | ||
c) Zwischenergebnis | 322 | ||
2. Wiederholte Tatbegehung und Serienstraftaten | 323 | ||
a) Klima der Gewalt | 324 | ||
b) Konkludente Drohung infolge von Gewalt in der Vergangenheit sowie auf Grund des Fortwirkens einer Drohung | 325 | ||
aa) Frühere Gewalt und Drohungen zur Erzwingung sexueller Handlungen | 327 | ||
bb) Klima der Gewalt bzw. Angst als schlüssige Drohung | 331 | ||
cc) Anforderungen an die Kundgabe der konkludenten Drohung | 333 | ||
c) Schließung der Strafbarkeitslücken durch § 177 I Nr. 3 StGB? | 334 | ||
d) Kritik | 335 | ||
3. Einsperren | 337 | ||
4. Sadismus | 338 | ||
5. Überraschungsangriff | 339 | ||
6. Ablehnung einer finalen Verknüpfung auf Grund realitätsferner Annahmen | 342 | ||
a) Drohung zur Erzwingung des Beischlafs oder nur zur aktiven Beteiligung daran? | 342 | ||
b) Gewaltanwendung zur gewaltlosen Erreichung des Höhepunkts | 344 | ||
c) Fortwirkung massiver Gewalthandlungen gegen Dritte | 346 | ||
7. Gewalt durch Einsatz betäubender Stoffe | 347 | ||
III. Fazit: Abschied von der Lehre der Finalstruktur und des Finalzusammenhangs | 350 | ||
D. Das Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand | 356 | ||
I. Das Einverständnis | 356 | ||
II. Subjektiver Tatbestand | 358 | ||
1. Einführung | 358 | ||
2. Der Irrtum des Täters über ein Einverständnis des Opfers | 361 | ||
a) Die Konstruktion der vis haud ingrata als eine Ursache der spezifischen Vorsatzprüfung im Rahmen des § 177 StGB | 362 | ||
aa) Frühere Rechtsprechung | 364 | ||
bb) Neuere Rechtsprechung | 368 | ||
cc) Die Problematik der „geschlechtsspezifischen Situationsverkennung“ | 375 | ||
b) Valide Maßstäbe im subjektiven Tatbestand | 377 | ||
c) Fahrlässigkeitsstrafbarkeit de lege lata oder ferenda zur Vermeidung ungerechtfertigter Freisprüche? | 380 | ||
III. Fazit | 383 | ||
E. Die „Bescholtenheit“ des Opfers – Strafzumessung und minder schwerer Fall als Plattform antiquierter Schuldzuschreibungen | 384 | ||
I. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts | 384 | ||
II. § 177 II StGB a.F. – Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bis zum 33. StÄG | 385 | ||
1. Triebstau und sexueller Notstand | 387 | ||
2. Tatprovokation – Vorhergehende (intime) Beziehung | 388 | ||
3. Vergewaltigung von Prostituierten | 390 | ||
III. Der minder schwere Fall in der Reformdiskussion und der Gesetzgebung ab 1945 | 391 | ||
1. Die Entwürfe von 1959, 1960, 1962 | 391 | ||
2. Der Alternativentwurf von 1968 | 392 | ||
3. Das Vierte Gesetz zur Reform des Strafrechts von 1973 | 394 | ||
IV. Zwischenergebnis | 395 | ||
V. Der „minder schwere Fall einer Vergewaltigung“ in § 177 StGB n.F. nach dem 33. StÄG | 397 | ||
1. Einführung | 397 | ||
2. Mitverschulden und „Bescholtenheit“ des Opfers | 399 | ||
a) Tatprovokation | 399 | ||
b) Vorhergehende intime Beziehungen | 405 | ||
c) Vergewaltigung von Prostituierten | 409 | ||
VI. Kritische Würdigung | 411 | ||
1. „Mitverantwortung“ des Opfers als Strafzumessungskategorie im Rahmen des § 177 StGB? | 411 | ||
2. Die Relevanz der „Bescholtenheit“ und der Täter-Opfer-Beziehung | 419 | ||
3. „Zurückwandlung“ des Regelbeispiels des § 177 I, II Nr. 1 StGB und Abschaffung des minder schweren Falls als Konsequenz? | 421 | ||
Schlussbetrachtung und Ausblick | 424 | ||
Literaturverzeichnis | 433 | ||
Stichwortverzeichnis | 468 |