Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § 17 StGB im Spiegel der BGH-Rechtsprechung
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Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § 17 StGB im Spiegel der BGH-Rechtsprechung
Zugleich ein Beitrag zur Analyse latenter richterlicher Wertungen in Entscheidungsgründen
Schriften zum Strafrecht, Vol. 120
(2000)
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Abstract
Der Autor befaßt sich eingangs mit der Frage, ob und wie sich aus den Urteilstexten, vor allem aus den Entscheidungsgründen, die sog. latenten Entscheidungsgründe ermitteln lassen. "Latent" sind Entscheidungsgründe, die den oder die Richter zu ihrer Entscheidung (mit-)bewogen haben, die aber in der Urteilsbegründung nicht offen mitgeteilt werden. Dies können z. B. politische, ethische oder religiöse Überzeugungen sein oder aber ein bestimmtes kriminalpolitisches Konzept. Christoph Roos gibt einen kritischen Überblick über die verschiedenen Erklärungsversuche für den immer wieder geäußerten Verdacht, die eigentlichen Entscheidungsgründe würden nicht, zumindest aber nicht vollständig, im Urteilstext aufgeführt.Am Beispiel der sozialwissenschaftlichen Inhaltsanalyse, einem Textanalyse-Verfahren, und ihrer Anwendung auf Urteilstexte wird dann die Möglichkeit einer "objektiven" wertungs- und ideologiekritischen Analyse richterlicher Entscheidungsgründe untersucht sowie deren mangelnde Eignung zur ideologiekritischen Analyse von Entscheidungsgründen dargelegt. Exemplarisch wird im folgenden die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Vermeidbarkeit von Verbotsirrtümern nach § 17 StGB im Hinblick auf latente Wertungen und ideologische Grundmuster hin untersucht. Die Untersuchung beginnt mit der in der Literatur nahezu einhellig geäußerten Kritik an einer zu strengen Handhabung des § 17 StGB. Der Autor versucht anhand der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Gründe für diese restriktive Auslegung des § 17 StGB durch die Rechtsprechung offenzulegen. Zentrale Bedeutung im Rahmen dieser Untersuchung hat das Kriterium der "Gewissensanspannung", das der Bundesgerichtshof seit der Entscheidung BGHSt 2, 194 ff. in ständiger Rechtsprechung zur Abgrenzung des vermeidbaren vom unvermeidbaren Verbotsirrtum verwendet. (Rechts-)theoretische und philosophische Grundlagen dieses Kriteriums sowie seine (fehlende) Eignung und Anwendung werden kritisch dargestellt, u
Table of Contents
Section Title | Page | Action | Price |
---|---|---|---|
Vorwort | 3 | ||
Inhaltsverzeichnis | 7 | ||
A. Die latenten Gründe richterlicher Urteile – ein Weg zum „durchschauten Richter“? | 13 | ||
I. Latente Gründe richterlicher Entscheidungen – Geschichte eines Verdachts | 14 | ||
II. Zu Aktualität und Facetten des Problems latenter Gründe richterlicher Entscheidungen | 16 | ||
III. Die latenten Gründe richterlicher Entscheidungen – ein „Scheinproblem“? | 20 | ||
IV. Psychologische Erklärungsversuche für das Problem der latenten Entscheidungsgründe | 22 | ||
V. Das „Rechtsgefühl“ als Quelle oder Produkt außerrechtlicher Wertungen? | 27 | ||
VI. Soziologische und sozialpsychologische Erkenntnisse über die Ursachen latenter Argumentationen in Entscheidungsgründen | 31 | ||
1. Erkenntnisse über richterliche „Attitüden“ | 32 | ||
2. Insbesondere: „Konservatismus“ als latente Grundhaltung des Richters? | 33 | ||
3. „Identifizierung“ des Richters mit einer Partei bzw. einem Verfahrensbeteiligten | 36 | ||
VII. Die generelle Problematik eines Rückgriffs auf ethisch-moralische Wertungen in Begründungen richterlicher Entscheidungen | 37 | ||
VIII. Latente richterliche Wertungen als selbstgeschaffenes Problem unserer Rechtsordnung | 40 | ||
1. Latente richterliche Wertungen als Produkte einer auf effizienten Rechtsschutz bedachten Gesellschaft | 40 | ||
2. Latente Wertungen als Produkt der gesetzlichen Regelung | 41 | ||
a) Die Strafgesetzgebung als „Agent“ der „Moral“ | 41 | ||
b) Grenzziehung zwischen „außerrechtlichen“ und „rechtlichen“ Wertungen? | 42 | ||
c) Die strafrechtliche „Generalklausel“ als Zwang zum Rückgriff auf „außerrechtliche“ Begründungen | 44 | ||
d) Das Bundesverfassungsgericht „zwischen den Fronten“ | 49 | ||
e) Die Verfassung als „sicherer Grund“ des Richtens(?) | 51 | ||
IX. Die „Offenlegung von Vorverständnissen“ als Lösung des Problems latenter richterlicher Wertungen? | 53 | ||
1. Die Forderung nach „Offenlegung von Vorverständnissen“ | 53 | ||
2. Lüge als Mittel der Rechtsprechung? | 56 | ||
3. Kritik am Postulat einer „Offenlegung“ von Vorverständnissen in Entscheidungsgründen | 60 | ||
4. Das Problem eines infiniten Regresses | 62 | ||
X. Statt einer Zusammenfassung | 64 | ||
B. Zur Analyse richterlicher Entscheidungen unter Verwendung der soziologischen „Inhaltsanalyse“. Zu Chancen und Grenzen einer methodologisch fundierten Ideologiekritik in den Rechtswissenschaften | 66 | ||
I. Inhaltsanalyse als Instrument der empirischen Sozialforschung | 68 | ||
1. Zum Begriff „Inhaltsanalyse“ | 69 | ||
2. Vorzüge der Inhaltsanalyse als Verfahren der Textanalyse und -kritik | 70 | ||
3. Zur historischen Entwicklung der Inhaltsanalyse | 71 | ||
II. Die Einzelheiten inhaltsanalytischer Verfahrensweisen | 72 | ||
1. Quantitativ „oder“ Qualitativ? | 72 | ||
2. Die Analyse latenter Inhalte | 76 | ||
3. Zur „Objektivität“ der Inhaltsanalyse | 77 | ||
4. Reliabilität und Validität als Gütekriterien inhaltsanalytischer Untersuchungen | 82 | ||
a) Validität | 83 | ||
b) Reliabilität | 85 | ||
5. Der Einsatz von Codierern | 87 | ||
III. Hermeneutik als Basis sozialwissenschaftlicher Inhaltsanalyse? | 90 | ||
1. Zur philosophischen Hermeneutik – insbesondere in der von Hans-Georg Gadamer ausgeprägten Variante | 91 | ||
2. Das hermeneutische Fundament des Modells einer qualitativen Inhaltsanalyse | 98 | ||
IV. Inhaltsanalyse und Rechtswissenschaft | 100 | ||
1. Juristische Literatur als Objekt inhaltsanalytischer Untersuchungen | 101 | ||
2. Die Anwendung inhaltsanalytischer Verfahren auf Urteile deutscher Gerichte | 106 | ||
a) Qualitative Inhaltsanalyse von richterlichen Entscheidungsbegründungen aus soziologischer Perspektive | 107 | ||
aa) Einzelheiten der Methode und ihrer Anwendung | 108 | ||
(1) Die „Gütekriterien“: Kontext, Singularität, Latenz und Präsenz | 110 | ||
(2) Hermeneutik als (latente) Basis dieses inhaltsanalytischen Modells | 112 | ||
(3) Reliabilität der Urteilsanalysen | 113 | ||
(4) Validität der Urteilsanalysen | 116 | ||
b) Qualitative Inhaltsanalyse von richterlichen Entscheidungen durch Juristen | 121 | ||
aa) Beispiel 1 | 121 | ||
bb) Beispiel 2 | 125 | ||
(1) Reliabilität, Validität und „Objektivität“ | 127 | ||
(2) Die Kategorien und der interpretationsleitende „theoretische Rahmen“ der Untersuchung | 130 | ||
V. Ideologiekritik versus Methodologie? | 136 | ||
VI. Zusammenfassung und zugleich Begründung dafür, daß vorliegend keine qualitative Inhaltsanalyse der BGH-Rechtsprechung durchgeführt wird | 138 | ||
VII. Exkurs: „Dekonstruktion“ von Urteilstexten? | 144 | ||
C. Die Rechtsprechung des BGH zur Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § 17 StGB | 152 | ||
I. Das Kriterium der „Gewissensanspannung“ | 155 | ||
1. Der Gewissensbegriff in der Strafrechtsprechung des BGH | 156 | ||
a) Die frühe Strafrechtsprechung des BGH | 156 | ||
aa) Der zeitgeschichtliche politische Kontext | 156 | ||
bb) Versuch einer Vergangenheitsbewältigung durch (Natur-) Recht | 158 | ||
cc) Die „Naturrechtsrenaissance“ in der Rechtsprechung des BGH in Strafsachen | 160 | ||
dd) Christliches Naturrecht in der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Nachkriegszeit | 173 | ||
(1) Ernst von Hippel | 174 | ||
(2) Valentin Tomberg | 178 | ||
ee) Exkurs: Die christliche (katholische) Lehre vom Gewissen | 181 | ||
ff) „Recht und Ethik“ in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in den fünfziger Jahren. Ergebnisse einer zeitgenössischen Untersuchung | 186 | ||
b) Zwischenergebnis | 192 | ||
2. Die „Gewissensanspannung“ als Kriterium des BGH zur Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums. Darstellung und Kritik | 194 | ||
a) Maßstäbe und Realität | 196 | ||
b) „Abgestumpfte Gewohnheitsverbrecher“ und eine „Lebensführungsschuld“ als Argumentationshilfen | 197 | ||
c) Das Kriterium der „Gewissensanspannung“ in der weiteren Rechtsprechung des BGH in Strafsachen | 204 | ||
d) Die Verwendung des Begriffs „Gewissen“ durch den BGH – ein Irrtum? | 206 | ||
aa) Verbindungen von Recht und Gewissen in der Lehre Hans Welzels. Darstellung, Kritik und ein Vergleich mit der Rechtsprechung des BGH | 210 | ||
bb) Ergebnis | 216 | ||
3. Die Eignung des Kriteriums der „Gewissensanspannung“ | 216 | ||
a) Das Gewissen und seine Beziehung zur „Sitten-“ und Rechtsordnung | 217 | ||
aa) Exkurs: Die Beziehungen von Rechts- und Kulturnormen nach Max Ernst Mayer | 219 | ||
bb) Exkurs: Unrechtsbewußtsein, Schuld und „Parallelwertung in der Laiensphäre“ in der Lehre Arthur Kaufmanns. Darstellung und Kritik | 221 | ||
b) Das „stellvertretende Gewissensurteil“ des Richters oder: Das „gesollte“ Gewissen | 227 | ||
aa) Die Lehre vom „stellvertretenden Gewissensurteil“ des Richters | 227 | ||
bb) Kritik der Lehre vom „stellvertretenden Gewissensurteil“ des Richters | 229 | ||
cc) Gesellschaftliche Bedingungen der Gewissensausbildung – ohne Einfluß auf die Berechtigung eines „stellvertretenden Gewissensurteils“? | 233 | ||
4. Einordnung der BGH-Rechtsprechung | 241 | ||
5. Die „Anspannung“ des Gewissens | 244 | ||
6. Die „Mauerschützenfälle“ – verkannte Anwendungsfälle für den unvermeidbaren Verbotsirrtum? | 245 | ||
a) Die Rechtswidrigkeit der Schüsse an der innerdeutschen Grenze | 247 | ||
b) Die persönliche strafrechtliche Schuld der Mauerschützen | 267 | ||
c) Die „Gewissensanspannung“ der Mauerschützen – „Alter Wein in neuen Schläuchen“? | 275 | ||
II. „Nachdenken“ und „Erkundigen“ als Kriterien zur Beurteilung der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums | 286 | ||
1. „Nachdenken“ als Mittel zur Erlangung der Unrechtseinsicht | 286 | ||
2. „Erkundigung“ als Mittel zur Erlangung der Unrechtseinsicht | 290 | ||
III. Mögliche Gründe für die restriktive Handhabung der Unvermeidbarkeit von Verbotsirrtümern durch den BGH | 294 | ||
1. Der Wechsel des Richters in die Perspektive des Angeklagten als Quelle einer verzerrten Perspektive | 295 | ||
2. Prävention und Normstabilisierung statt Schuld? | 303 | ||
a) Die strafrechtliche Generalklausel des § 17 StGB als multifunktionales Instrument für die Umsetzung kriminalpolitischer Zweckmäßigkeitserwägungen | 304 | ||
b) Generalpräventive Erwägungen als Basis der Schuldzuschreibung im Bereich des § 17 StGB – in der Lehre und in der Rechtsprechung des BGH | 307 | ||
aa) Zuständigkeit und Zuschreibung – die Position Günther Jakobs’. Darstellung und Kritik | 307 | ||
bb) Erhaltung von Normgeltung durch Schuldzuschreibung? | 312 | ||
cc) Einordnung der BGH-Rechtsprechung und Vergleich mit den Ergebnissen einer Untersuchung erstinstanzlicher Strafurteile | 315 | ||
D. Legitimationsprobleme durch gesellschaftlichen Wandel: „Risikogesellschaft“ und „Individualisierung“. Zur Relevanz eines soziologischen Befundes für die Strafjustiz | 320 | ||
I. Die „Risikogesellschaft“ | 322 | ||
II. Kritik am soziologischen Befund „Risikogesellschaft“ und seiner Rezeption im Strafrecht | 323 | ||
III. Die Risikogesellschaft als individualisierte Gesellschaft | 324 | ||
1. Was bedeutet „Individualisierung“? | 325 | ||
2. Standardisierung und äußere Konformität als Ausprägungen einer individualisierten „Massengesellschaft“ | 330 | ||
3. Die individualisierte Massengesellschaft – eine Mixtur aus Unübersichtlichkeit, Entsolidarisierung und permanentem Entscheidungszwang | 333 | ||
4. Individualisierung – ein Prozeß mit Tradition | 336 | ||
a) „Individualisierung“ – beobachtet von Max Horkheimer | 337 | ||
b) „Die Krise der industriellen Gesellschaft“ | 339 | ||
c) Die moderne, individualisierte Massengesellschaft als „Neuauflage“ der Klassengesellschaft? – Die Position Herbert Marcuses | 341 | ||
5. Die Angst des Individuums in der individualisierten Gesellschaft und ihre Ausnutzung für Zwecke der Kriminalpolitik | 344 | ||
a) „Der Einzelne in seiner Angst“ | 344 | ||
b) Angst als latente Grundlage einer auf positive Generalprävention abzielenden Kriminalpolitik | 347 | ||
IV. Individualisierung als kriminogener Faktor? | 349 | ||
V. Von der dringenden Notwendigkeit einer neuen Sozialpolitik statt repressiver Kriminalpolitik in der individualisierten Gesellschaft | 355 | ||
VI. Konsequenzen für die Entscheidungspraxis zu § 17 StGB | 359 | ||
Literaturverzeichnis | 365 |