Die De-Individualisierung des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht
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Die De-Individualisierung des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht
Strafrechtliche Abhandlungen. Neue Folge, Vol. 151
(2003)
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Abstract
Der Erziehungsgedanke ist das Leitprinzip des Jugendstrafrechts. Seine Bedeutung ist seit seiner Entstehung umstritten, was gerade in der zur Zeit wieder stattfindenden Debatte deutlich wird. Die Kritik gegen ihn wird aus drei unterschiedlichen Richtungen geführt: historisch, kriminologisch und rechtsdogmatisch. Dem Erziehungsgedanken wird vorgeworfen, daß er im Entstehungskontext unscharf konturiert gewesen sei und letztlich nichts anderes erreichen sollte, als jugendliche Straftäter zu entkriminalisieren. Kriminologisch werden ihm die Befunde der Sanktionsforschung entgegengehalten, die den Schluß nahelegten, Jugendkriminalität sei ein "normales" und nicht interventionsbedürftiges Phänomen. Auch seien die staatlich-präventiven Methoden bislang nicht erfolgreich gewesen. Hieran knüpft nun die juristische Kritik: Der Erziehungsgedanke verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz, das Erziehungsrecht der Eltern und gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Jugendlichen selbst.Ralph Grunewald setzt sich mit jedem der genannten Kritikpunkte detailliert auseinander. Die Entstehungsgeschichte des Erziehungsgedankens wird auf dem geisteswissenschaftlichen und juristischen Hintergrund des 19. Jahrhunderts abgebildet. Hier kann der Verfasser zeigen, daß der Erziehungsgedanke als individualisierendes ("duales") Interventionsinstrument gedacht war, mit dem auf die individuellen Bedürfnisse und Defizite des jungen Menschen reagiert werden soll. Diese Ausrichtung ist im Verlauf der kriminologischen Entwicklung verloren gegangen. Die (Fehl)Rezeption der Etikettierungsansätze haben hierzu ebenso beigetragen wie die einseitige Betrachtung der Ergebnisse der Sanktionsforschung. Auch die verfassungsrechtliche Kritik läßt sich nicht halten. Denn gerade in diesem Abschnitt kann deutlich gemacht werden, wie sehr das Erziehungsprinzip mit dem Menschenbild und anderen elementaren Verfassungsgütern harmoniert und mehr noch von ihnen gefordert wird. Im Ergebnis zeichnet Grunewald ein präzises Bild des Erziehungsgedankens und verdeutlicht die Auswirkungen der De-Individualisierung exemplarisch an Normen des JGG.
Table of Contents
Section Title | Page | Action | Price |
---|---|---|---|
Vorwort | 5 | ||
Inhaltsverzeichnis | 7 | ||
Einleitung | 13 | ||
I. Problemstellung | 13 | ||
II. Gliederung der Untersuchung | 18 | ||
Erster Teil: Die Geschichte des Erziehungsgedankens im JGG | 20 | ||
Erstes Kapitel: Entstehungsbedingungen des Erziehungsgedankens im 19. Jahrhundert | 20 | ||
I. Einführung | 20 | ||
II. Überblick über die geschichtliche Entwicklung | 21 | ||
III. Staatspolitische Bedingungen | 22 | ||
1. Liberalismus und Wohlfahrtsstaat | 23 | ||
2. Erziehung als Staatsaufgabe | 26 | ||
IV. Soziale Bedingungen | 28 | ||
1. Jugend als eigenständige Entwicklungsphase | 28 | ||
2. Die Jugendbewegung | 32 | ||
3. Die „soziale Frage“ der Jugend | 35 | ||
V. Die Neuordnung des Strafrechts durch den Schulenstreit | 38 | ||
1. Einführung | 38 | ||
2. Die Aufklärung | 40 | ||
3. Die Entwicklung der Straftheorie bei Kant und dem deutschen Idealismus | 42 | ||
4. Positivismus und moderne Schule | 51 | ||
a) Einführung | 51 | ||
b) Die Entwicklung der „positiven“ Philosophie | 51 | ||
c) Die Entstehung der Kriminologie | 53 | ||
d) Franz von Liszt und sein zweckbezogenes Interventionsprogramm | 54 | ||
e) Zusammenfassende Gegenüberstellung | 60 | ||
VI. Erziehungswissenschaftliche Entwicklung | 61 | ||
1. Der neuhumanistische Bildungsgedanke | 62 | ||
a) Das Bildungsideal der Aufklärung | 63 | ||
b) Das Bildungsideal der Romantik | 63 | ||
c) Die Entstehung des Neuhumanismus | 65 | ||
2. Die „Tatschule“ und der positivistische Bildungsbegriff | 67 | ||
VII. Ergebnis der Gegenüberstellung | 72 | ||
Zweites Kapitel: Klassifizierung des Erziehungsgedankens im JGG von 1923 | 74 | ||
I. Entstehung des dualen Erziehungsgedankens | 75 | ||
1. Die strafrechtliche Situation zur Zeit des RStGB von 1871 und die Internationale Kriminalistische Vereinigung | 75 | ||
2. Die Jugendgerichtsbewegung | 78 | ||
3. Der Dualismus des Erziehungsgedankens | 80 | ||
a) Terminologie | 81 | ||
b) Einflüsse der modernen Schule – der anleitende Interventionstypus | 83 | ||
aa) Die Ursachen der Jugendkriminalität | 84 | ||
bb) Das Interventionsprogramm der modernen Schule | 86 | ||
c) Das Interventionsprogramm der klassischen Schule | 93 | ||
d) Ergebnis der Gegenüberstellung | 102 | ||
aa) Der Dualismus | 102 | ||
bb) Vermittelnde Positionen | 104 | ||
II. Die Konkretisierung des Dualismus in der Gesetzgebung | 106 | ||
1. Die ersten Gesetzesvorschläge | 106 | ||
a) Die Vorschläge Aschrotts | 107 | ||
b) Die Vorschläge Schmölders | 108 | ||
c) Die Vorschläge der IKV | 110 | ||
d) Beurteilung der Vorschläge | 115 | ||
2. Entwicklung bis zum JGG von 1923 | 116 | ||
3. Der Straf- und Erziehungsgedanke im JGG vom 1.7.1923 | 125 | ||
a) Das „gesetzmäßige Leben“ als Erziehungsziel | 125 | ||
b) „Ausreichen“ von Erziehungsmaßregeln | 127 | ||
c) Gestaltung des Jugendstrafvollzugs | 131 | ||
III. Resümee der historischen Entwicklung | 135 | ||
1. Zusammenfassung der Strömungen | 135 | ||
2. Der Erziehungsgedanke als kriminalpolitische Funktion | 138 | ||
IV. Das Dilemma von Strafe und Erziehung | 140 | ||
Drittes Kapitel: Der duale Erziehungsgedanke im RJGG 43 | 144 | ||
I. Das Erziehungsziel im Nationalsozialismus | 145 | ||
II. Der Jugendarrest als idealistisch geprägte Maßnahme | 146 | ||
III. Die unbestimmte Verurteilung | 151 | ||
IV. Fazit der historischen Entwicklung | 153 | ||
Zweiter Teil: Auswirkungen der Entwicklung der Kriminologie auf das Verständnis des Erziehungsgedankens | 155 | ||
Viertes Kapitel: Die De-Individualisierung des Erziehungsgedankens | 155 | ||
I. Der individualisierende Erziehungsgedanke | 155 | ||
II. Die Entstehung der „kritischen“ Kriminologie | 157 | ||
1. Das Erziehungsideal eines „kritischen Kritikers“ | 157 | ||
2. Der Labelling-Approach | 161 | ||
a) Die Entwicklung des Labelling-Approach | 162 | ||
b) Auswirkungen auf die Kriminologie | 164 | ||
c) Auswirkungen auf das Jugendstrafrecht | 166 | ||
aa) Diversionsbestrebungen | 166 | ||
bb) Jugend als Kontrollparadigma | 167 | ||
III. Kritik am wissenschaftlichen Konzept des Labelling-Approach | 169 | ||
1. Empirische Gesichtspunkte | 169 | ||
2. Rezeptionsschicksal des Labelling-Approach | 171 | ||
a) Die Kritik der Rezeptionsprotagonisten – Haferkamp | 172 | ||
b) Die Kritik Bohnsacks | 173 | ||
c) Die Kritik aus marxistisch-ideologischer Perspektive | 176 | ||
d) Fazit | 176 | ||
3. Integrationsversuche von Ätiologie und Labelling | 177 | ||
4. Auswirkungen auf den Erziehungsgedanken | 178 | ||
Fünftes Kapitel: Auswirkungen der empirischen Forschung auf das Verständnis des Erziehungsgedankens | 180 | ||
I. Vorstellungen von Verteilung und Verlauf von Jugendkriminalität | 180 | ||
1. Die Ubiquitätsthese | 180 | ||
2. Episodenhaftigkeit von Jugenddelinquenz | 182 | ||
II. Effizienz staatlicher Reaktionen auf Jugendkriminalität | 187 | ||
1. Ineffektivität jugendstrafrechtlicher Sanktionen | 187 | ||
2. Auswirkungen auf den Erziehungsgedanken | 189 | ||
3. Kritische Betrachtung | 190 | ||
a) Kritik an der Durchführung der Untersuchungen | 190 | ||
b) Kritik am Forschungsdesign der Untersuchungen | 191 | ||
III. Die Erziehungswirklichkeit bei den Jugendrichtern | 194 | ||
IV. Fazit | 198 | ||
Dritter Teil: Die juristisch-dogmatische Transformation der Kritik am Erziehungsgedanken | 200 | ||
Sechstes Kapitel: Rechtsstaatliche Einschränkungen des Erziehungsgedankens | 200 | ||
I. Bestimmtheitsgebot | 200 | ||
II. Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit | 203 | ||
Siebentes Kapitel: Grundrechtsverletzungen | 208 | ||
I. Das Schlechterstellungsverbot (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 GG) | 208 | ||
II. Der Schutz des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 GG) | 214 | ||
1. Umfang des elterlichen Erziehungsrechts | 215 | ||
2. Verstoß gegen die Subsidiaritätsklausel | 216 | ||
3. Das dynamische Erziehungsverständnis des Grundgesetzes | 218 | ||
III. Eingriffe in Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG | 218 | ||
Achtes Kapitel: Auswirkungen der De-Individualisierung auf die Rechtsanwendung | 225 | ||
I. Konkretisierung der Erziehungskritik an einzelnen Normen | 225 | ||
1. § 43 JGG: Umfang der psycho-sozialen Ermittlungen | 225 | ||
a) Einfluß der Kritik am Erziehungsgedanken | 225 | ||
b) Auswirkungen der De-Individualisierung | 226 | ||
2. § 16 JGG: Jugendarrest | 228 | ||
a) Einfluß der Kritik am Erziehungsgedanken | 228 | ||
b) Auswirkungen der De-Individualisierung | 229 | ||
3. § 71 JGG: Vorläufige Anordnungen über die Erziehung | 232 | ||
a) Einfluß der Kritik am Erziehungsgedanken | 232 | ||
b) Auswirkungen der De-Individualisierung | 233 | ||
4. § 11 Abs. 2 JGG: Änderung, Befreiung und Laufzeitverlängerung von Weisungen | 235 | ||
a) Einfluß der Kritik am Erziehungsgedanken | 235 | ||
b) Auswirkungen der De-Individualisierung | 235 | ||
II. Der Erziehungsgedanke in der Rechtsprechung | 237 | ||
1. Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen | 238 | ||
2. Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld | 240 | ||
3. Stellungnahme | 242 | ||
Neuntes Kapitel: Die de-individualisierende Reform(ul)ierung des Erziehungsgedankens | 245 | ||
I. Politische Vereinnahmung des Erziehungsgedankens | 245 | ||
II. Neuordnung des Jugendstrafrechts | 249 | ||
1. Jugendhilferechtliche Ausprägung | 250 | ||
2. Rechtsstaatlich-formale Ausprägung des Jugendstrafrechts | 251 | ||
a) Konnexitätslockerung | 251 | ||
b) Neo-Klassizistische Bestrafungskonzepte | 253 | ||
3. Reformulierung des Erziehungsgedankens | 254 | ||
4. Verfahrensspaltung | 257 | ||
III. Systematisierende Stellungnahme | 258 | ||
1. Jugendhilferechtliche Lösung | 258 | ||
2. Rechtsstaatlich-formale Lösung | 259 | ||
3. Reformulierung des Erziehungsgedankens | 262 | ||
4. Exkurs: Erziehung und Spezialprävention | 263 | ||
Schlußbetrachtung | 266 | ||
I. Zusammenfassung | 266 | ||
II. Ausblick | 270 | ||
Literaturverzeichnis | 274 | ||
Personen- und Sachverzeichnis | 290 |