Das freie Ermessen
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Das freie Ermessen
Von den vorkonstitutionellen Wurzeln zur positivistischen Auflösung der Ermessenslehre
Schriften zum Öffentlichen Recht, Vol. 706
(1996)
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Abstract
Die heutige Lehre vom Verwaltungsermessen schreibt Begriffe und Aussagen fort, die im Streit um die Bindung der monarchischen Exekutive an das konstitutionelle Gesetz und in der Auseinandersetzung um die Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickelt wurden. Die vorliegende Arbeit fragt nach den Bedingungen und nach der Rechtfertigung dieser dogmatischen Kontinuität.Die Gegenüberstellung von rechtlich nur begrenztem Verwaltungsermessen und rechtlich gebundenem richterlichen Ermessen wurzelt schon in der vorkonstitutionellen Staatsrechtslehre. Justiziable Grenzen des Verwaltungsermessens werden in der spätkonstitutionellen Diskussion um die Verwaltungsgerichtsbarkeit entfaltet. Fragestellung und Lösungsansätze werden durch das rechtsschutzpolitische Erkenntnisinteresse und das konstitutionelle Rechts- und Staatsverständnis bestimmt. Rechtsbindung wird nur als Gesetzesbindung, und diese nur als Vorrang des Gesetzes wahrgenommen. Auslegungsmethodische Standards werden durch den Vorbehalt administrativer Sachverhaltswürdigung unterlaufen.Eine immer weiter ausdifferenzierte Ermessensfehlerlehre muß die Verkürzung der Rechtsbindung ausgleichen. Damit und mit der Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff gelingt es zwar, den Rechtsschutz auszuweiten. Die Ermessensdogmatik bleibt aber von Unstimmigkeiten und Brüchen gekennzeichnet. Das überholte Modell logisch eindeutig determinierter Rechtsanwendung bildet ihre methodische Grundlage. Ihr staatstheoretischer Hintergrund sind vorkonstitutionelle Gewaltenteilungsvorstellungen und das Bild einer vorrechtlich begründeten Staatsgewalt.Erst die positivistische Ermessenslehre Kelsens und Merkls befreit die rechtswissenschaftliche Methode vom Einfluß konstitutioneller Rechts- und Staatslehre, indem Ermessen als notwendiger Spielraum bei der Normkonkretisierung begriffen wird. Die herrschende Lehre hat die Auseinandersetzung mit diesem Ansatz bis heute versäumt. Sie nachzuholen, würde erlauben, die Diskussion auf die Probleme der Auslegung vager Tatbestandsmerkmale und die Systematik möglicher Rechtsfehler zu konzentrieren und eine stimmige Ermessensdogmatik zu erarbeiten, die das Ermessen in der Lehre von der Rechtsanwendung auflöst.
Table of Contents
Section Title | Page | Action | Price |
---|---|---|---|
Vorwort | 5 | ||
Inhaltsverzeichnis | 7 | ||
Einleitung | 13 | ||
Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln | 20 | ||
I. Der Ermessensbegriff in der Reichspublizistik und der Territorialstaatsrechtslehre | 21 | ||
1. Bedeutungsmerkmale des Ermessensbegriffs im allgemeinen und im juristischen Sprachgebrauch | 21 | ||
2. Das Ermessen des Landesherrn in der Ausübung seiner Hoheitsgewalt | 23 | ||
a) Voraussetzungen | 23 | ||
aa) Abgrenzung zu ständischen Mitwirkungsrechten | 24 | ||
bb) Abgrenzung zur Entscheidungszuständigkeit der Gerichte | 25 | ||
aaa) Die Zuständigkeit der Reichsgerichte | 25 | ||
bbb) Die Zuständigkeit der Territorialgerichte | 30 | ||
(1) Die Zuständigkeit der Justizkollegien | 30 | ||
(2) Die Kammerjustiz | 34 | ||
cc) Materiellrechtliche Bezüge des Ermessensbegriffs | 36 | ||
aaa) Ermessen als Gegensatz zur Rechtsbindung | 37 | ||
bbb) Ermessen als Charakteristikum polizeilichen Handelns | 39 | ||
b) Leitlinien und Grenzen der Ermessensausübung | 41 | ||
aa) Klugheitsregeln und Kriterien der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit als Leitlinien der Ermessensausübung | 42 | ||
bb) Positives Recht und Mißbrauch der Hoheitsgewalt als Grenzen des landesherrlichen Ermessens | 43 | ||
aaa) Positivrechtliche Grenzen | 43 | ||
bbb) Der Mißbrauch der Landeshoheit | 44 | ||
3. Das richterliche Ermessen | 47 | ||
II. Die Begriffsverschiebung zu Beginn des 19. Jahrhunderts | 53 | ||
1. Ermessen als Kompetenz zur justizfreien politischen Entscheidung | 53 | ||
a) Die Reduzierung des Privatrechtsbegriffs und die Argumentation mit der landesherrlichen Souveränität | 54 | ||
b) Das Gewaltenteilungsargument | 57 | ||
2. Ermessen als Gegensatz zur positivrechtlichen Bindung der Hoheitsgewalt | 61 | ||
III. Die Kontinuität des Ermessensbegriffs im Frühkonstitutionalismus und unter der Paulskirchenverfassung | 65 | ||
IV. Zusammenfassung | 68 | ||
B. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre | 70 | ||
I. Die Ansatzpunkte: Rechtsstaatslehren und Verwaltungsgerichtsgesetze | 70 | ||
1. Rechtsstaatlich begründete Ansätze zu einer Revision der Ermessenslehre | 71 | ||
a) Lorenz v. Stein oder Das verfassungsmäßige Verwaltungsrecht | 71 | ||
b) Otto Bähr oder Die Auslegungslehre im Dienst der Verwaltung | 74 | ||
c) Friedrich Franz Mayer oder Ermessensgrenzen à la Française | 79 | ||
d) Rudolf v. Gneist oder Die willkürfreie Maßbestimmung | 84 | ||
e) Die gemeinsamen Perspektiven | 88 | ||
aa) Das Rechtsstaatsargument als Surrogat verfassungsrechtlicher Forderungen | 88 | ||
bb) Die Neubestimmung des Verhältnisses von Rechtsbindung und Ermessen | 92 | ||
aaa) Das positive Recht als Ermessensgrenze | 93 | ||
bbb) Die Reduzierung der Rechtsanwendungsfehler auf die Wortlautverfehlung | 94 | ||
cc) Die Renaissance der Mißbrauchslehre | 96 | ||
2. Das freie Ermessen als Grund für die Unzuständigkeit der Verwaltungsgerichte | 99 | ||
a) Der Ausschluß verwaltungsgerichtlicher Ermessenskontrolle | 102 | ||
b) Die Sonderstellung der Tatsachenkontrolle | 110 | ||
II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre | 113 | ||
1. Die konventionelle Verkürzung der Fragestellung | 114 | ||
a) Die Identifikation von Rechts- und Gesetzesbindung | 114 | ||
b) Die Konzentration auf das Verwaltungsermessen und die Rechtsschutzperspektive | 116 | ||
c) Das Gesetz „nur" als Schranke des Verwaltungsermessens | 117 | ||
aa) Die Identifikation von Gesetzesbindung und Gesetzesvorrang | 118 | ||
bb) Die Verkürzung des Vorrangproblems durch die Kontinuität der Gewaltenteilungsargumentation | 121 | ||
aaa) Das Gewaltenteilungsargument in der konservativen Lehre | 122 | ||
bbb) Die Relativierung des Gewaltenteilungsarguments in der positivistischen Staatsrechtslehre | 125 | ||
ccc) Der Dualismus von richterlichem und freiem Ermessen in der Lehre vom Verwaltungsakt | 132 | ||
2. Schauplätze und Fortschritte der Diskussion | 139 | ||
a) Vom Ermessenstatbestand zum unbestimmten Rechtsbegriff | 140 | ||
aa) Unbestimmte Begriffe als Ermessenseinräumung | 141 | ||
aaa) Das Argument der gesetzlichen Lücke | 141 | ||
bbb) Das Argument impliziter gesetzlicher Delegation | 146 | ||
ccc) Das „technische" Ermessen sachverständiger Tatsachenfeststellung und -würdigung | 149 | ||
ddd) Zusammenfassung | 156 | ||
bb) Die Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff | 157 | ||
aaa) Unbestimmte Begriffe als Tatbestandsvoraussetzung bei der Regelung subjektiver Rechte | 157 | ||
bbb) Die Konkretisierung unbestimmter Begriffe als Auslegungsproblem | 160 | ||
ccc) An den Grenzen der Auslegung | 165 | ||
ddd) Zusammenfassung | 167 | ||
cc) Kompromisse und Kasuistik – Die Überbrückung des Auslegungsspielraums | 167 | ||
aaa) Das Brüchigwerden des Dogmas vom eindeutigen Auslegungsergebnis | 168 | ||
bbb) Walter Jellineks Drei-Sphären-Modell der Anwendung unbestimmter Tatbestandsmerkmale | 170 | ||
ccc) Die Ausweichstrategien | 172 | ||
(1) Die Verweislehren | 172 | ||
(2) Die Begrenzung des Ermessens auf die Ermächtigung zur Zweckkonkretisierung oder Wertung | 178 | ||
ddd) Zusammenfassung | 181 | ||
dd) Zwischenergebnis: Die Tendenz zur Reduzierung des Ermessens auf die Rechtsfolgenwahl | 183 | ||
b) Einschränkungen des Rechtsfolgenermessens | 186 | ||
aa) Die Emanzipation des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus der Ermessensfehlerlehre | 186 | ||
aaa) Der Ausgangskonsens: Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit als reine Ermessensfragen | 186 | ||
bbb) Die Ungeeignetheit als Indiz der Ermessensüberschreitung durch Willkür – Die „Motivkontrolle" des Preußischen Oberverwaltungsgerichts | 189 | ||
ccc) Eignung und Erforderlichkeit als Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Polizeiverfügung | 193 | ||
(1) Die Stagnation der Rechtsprechung | 193 | ||
(2) Die Lehre vom Übermaßverbot oder vom Grundsatz der verhältnismäßigen Abwehr | 194 | ||
ddd) Zusammenfassung | 199 | ||
bb) Entwicklung und Funktion der spätkonstitutionellen Ermessensfehlerlehre | 201 | ||
aaa) Konkretisierungen und Rechtfertigungsversuche | 202 | ||
(1) Die Ermessensüberschreitung als bösgläubige Dienstpflichtverletzung | 203 | ||
(2) Die Ermessensüberschreitung als Verstoß gegen rechtliche Zweckbindungen | 207 | ||
(a) Das Vorbild des excès de pouvoir | 207 | ||
(b) Die Zweckbindung als „innere" Ermessensgrenze | 208 | ||
(c) Die Zweckbindung als Grenze zur Zuständigkeits- oder Befugnisüberschreitung | 210 | ||
(3) Die Ermessensüberschreitung als Fehler im Entscheidungsverfahren | 212 | ||
bbb) Die Kompensationsfunktion der Ermessensfehlerlehre | 220 | ||
ccc) Zusammenfassung | 222 | ||
3. Die Bilanz der herrschenden spätkonstitutionellen Ermessenslehre | 223 | ||
a) Die Dualismen | 223 | ||
aa) Die Kontinuität der Gegenüberstellung von gebundenem richterlichen und freiem Verwaltungsermessen | 224 | ||
aaa) Der Dualismus gebundener und freier Staatstätigkeit | 224 | ||
bbb) Die Zuordnung zu den Staatsfunktionen | 225 | ||
bb) Ermessen als Gegenstand rechtlicher Beschränkung oder als Restbereich legalen Entscheidungsspielraums | 228 | ||
cc) Die Doppelbödigkeit der Fehlerlehre | 230 | ||
b) Methodische Grundlagen und staatstheoretischer Hintergrund | 232 | ||
aa) Die Entfaltung positivrechtlicher Bindungen auf dem Boden des dualistischen Rechtsanwendungsmodells | 232 | ||
bb) Die Lehre von den zwei Seiten des Staates | 234 | ||
III. Der positivistische Gegenentwurf | 236 | ||
1. Das einheitliche Rechtsanwendungsmodell: Ermessen als notwendiger Konkretisierungsspielraum im Stufenbau der Rechtsordnung | 237 | ||
2. Die Auflösung der Dualismen | 241 | ||
a) Die Relativierung der Gegenüberstellung gebundener und freier Akte | 241 | ||
b) Die Überwindung des Dualismus von gebundenem richterlichen und freiem Verwaltungsermessen | 242 | ||
c) Die einheitliche Fehlerlehre | 244 | ||
3. Die Identität von Staat und Rechtsordnung | 246 | ||
4. Zusammenfassung | 250 | ||
IV. Die versäumte Auseinandersetzung | 250 | ||
C. Zusammenfassung und Ausblick | 259 | ||
Literaturverzeichnis | 264 |