Aberglauben im 19. Jahrhundert
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Aberglauben im 19. Jahrhundert
Preußen und seine Rheinprovinz zwischen Tradition und Moderne (1815-1918)
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Vol. 22
(2003)
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Abstract
Mit Aberglauben untersucht der Autor Phänomene, welche nach vorherrschendem Verständnis im 19. Jahrhundert allerhöchstens eine untergeordnete Rolle spielten. Die dominierende historische Deutungsperspektive für diese Epoche folgt soziologischen Kategorien wie »Säkularisierung«, »Rationalisierung«, »Intellektualisierung« oder insgesamt einer »Modernisierung«. Eine wirkungsmächtige Metapher ist in diesem Kontext Max Webers Formel von einer »Entzauberung der Welt«. Aber allen säkularen Trends und wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz blieben Religion und Kirchen prägende Kräfte. Und auch die Ohnmacht der Medizin gegenüber vielen Krankheiten ließ zahllose überkommene Deutungsmuster fortdauern. Gleichzeitig öffnete der Modernisierungsprozeß das Feld für neue Formen des Aberglaubens und der Magie, die mit scheinbar wissenschaftlichem Zugriff zunächst in bürgerlich-adeligen Kreisen Fuß faßten. So wurzelt die heutzutage vielfach beklagte magische Moderne fundamental im 19. Jahrhundert, dessen kennzeichnende und eigentümliche Mischung aus traditionellen und modernen Elementen sich in den Auseinandersetzungen um Aberglauben wie in einem Brennglas bündelt.Ermittelt werden kulturelle und soziale Leitbilder der Gruppen, die Aberglaubenszuweisungen vornahmen, sowie derjenigen, die mit diesem Begriff diskreditiert werden sollten. Dabei sind drei wesentliche Ergebnisse hervorzuheben. Erstens fügt sich der Aberglaubensvorwurf in Volkskulturkonzepte, indem er sich für die aufgeklärten Kritiker als herausragendes kulturpolitisches Schlagwort erwies, um sich der eigenen religiösen, medizinischen oder wissenschaftlichen Normen zu vergewissern. Zweitens lassen sich vor- und antiaufklärerische Tendenzen im 19. Jahrhundert erstmals systematisch verfolgen. Wenn man Aberglauben als Problem ernst nimmt, dann setzte eine Breitenwirkung der Aufklärung nur langsam ein. Dieser Prozeß war zudem von vielen Rückschlägen und Verzögerungen begleitet. Drittens zeigen die Konflikte um den animalischen Magnetismus und den Spiritismus, daß Aberglauben eben nicht nur an überkommenen Werten gemessen werden kann. Das gilt insbesondere, wenn man in den Blick nimmt, daß sich die neuen (halb)wissenschaftlichen Verfahren phasenweise in die Wissenschaftslandschaft einfügten und an den Universitäten etablierten.
Table of Contents
Section Title | Page | Action | Price |
---|---|---|---|
Vorwort | 5 | ||
Inhaltsverzeichnis | 7 | ||
Abkürzungsverzeichnis | 10 | ||
I. Einleitung | 13 | ||
1. Abergläubisch-magische Bezeichnungen und Bedeutungen | 18 | ||
2. Forschungsstand | 21 | ||
3. Quellen und Gliederung | 30 | ||
II. Rechtliche Grundlagen und juristische Diskussionen um Aberglauben | 34 | ||
1. „Abergläubige Gaukeleyen" und „Gewinnsucht" im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten | 35 | ||
2. „Öffentlichkeit" und „öffentliches Gesundheitswohl" im Rheinischen Recht | 41 | ||
3. „Kurpfuscherei", „grober Unfug" und „freie Willensbildung": Die Strafgesetzbücher von 1851 und 1871 | 45 | ||
4. Volkskundliche Kriminalistik oder: Darf man Gespenster mißhandeln? | 49 | ||
5. Kirchenrechtliche und -politische Grundlagen im Wandel zur Moderne | 57 | ||
III. Populäre Frömmigkeit zwischen Einhegung und Unterdrückung | 66 | ||
1. Religiöser Aberglauben in der Debatte: Relikt- und Regressionstheorien | 69 | ||
2. Die Dominanz der Traditionen: Wallfahrten und Prozessionen | 80 | ||
a) Vormärzliche Wallfahrten zwischen Eigenregie und defensiver Inszenierung | 82 | ||
b) Tauziehen um „hergebrachte" Traditionen: Wallfahrten und Prozessionen bis zum Ersten Weltkrieg | 98 | ||
3. Religiöse Mißbräuche und Umtriebe: „Vorkommnisse der finstersten Zeit blödesten Aberglaubens" | 115 | ||
a) Der amtskirchliche Spagat im Ringen mit religiöser Abweichung | 117 | ||
b) Staatliche Reaktionen zwischen Aufklärung und Unterdrückung | 129 | ||
IV. Lektüren und Zensur abergläubischen Schrifttums | 139 | ||
1. Lektüren oder: Gab es eine „magische Hausväterliteratur"? | 141 | ||
2. Die Aufsicht auf Verbreitungsorte und -wege abergläubischer Literatur | 147 | ||
3. Grundlagen der Kontrolle von Gelegenheitsschriften | 156 | ||
4. Bildungs-, moral- und religionspolitische Zensur im Bemühen um Vergangenheit und Zukunft | 164 | ||
a) Der „Wunderglauben des gemeinen Volkes" im Fadenkreuz aufklärerischer Zensur | 165 | ||
b) Die Furcht vor unerwünschter Zukunft: Weissagungen und Prophezeiungen | 176 | ||
5. Amtskirchliche Strategien im Umgang mit abergläubischem Schrifttum | 190 | ||
V. Medizinische Konflikte um religiöse Heilmethoden, Laientherapeuten und Volksmittel | 201 | ||
1. Die preußische Verwaltung und der Kampf gegen medizinischen Aberglauben | 203 | ||
2. Medizinalpolizeiliche Perspektiven im Umgang mit Laientherapeuten | 209 | ||
3. Die langwierige Lösung von Krankheiten aus ihrem religiösen Kontext | 223 | ||
4. Heilungen durch „ungewöhnlich starken religiösen Eindruck" | 234 | ||
5. Der medizinische Blick auf althergebrachtes Verhalten | 244 | ||
VI. Verdächtige Neulinge. Animalischer Magnetismus, Hypnose und Spiritismus | 252 | ||
1. Animalischer Magnetismus zwischen Wissenschaft und Aberglauben | 253 | ||
a) Staatliche Perspektiven und Reaktionen | 255 | ||
b) Wissenschaftliche Argumentationsmuster | 266 | ||
c) Ärzte und ihre magnetische Therapeutik | 276 | ||
2. Der fließende Übergang zu hypnotischen und suggestiven Therapien | 281 | ||
3. Spiritistischer Geisterglauben zwischen Aberglauben und wissenschaftlichem Anspruch | 295 | ||
4. Kirchliche Reaktionen auf „Neuen Aberglauben" | 307 | ||
VII. Grenzfälle zwischen Volks- und Elitenkulturen | 316 | ||
1. Die Charité-Karriere des Pferdeknechtes Johann Gottlieb Grabe (1824) | 322 | ||
2. Die „Beschränktheit der Bewohner der Provinz am Rhein": Heinrich Mohr (1842/43) | 333 | ||
3. Flesch und Kickertz - Die Blutschwitzerin und ihr Mentor (1873-1877) | 344 | ||
4. Maria Funken und der Klopfgeist von Eckhausen (1890) | 351 | ||
5. Wahrsagerin oder Phrenologin? Anna Schulten (1913/14) | 357 | ||
VIII. Patienten, Publikum, Profite | 363 | ||
1. Eine „innere heilige Kraft": Aberglauben und Geschlecht | 364 | ||
2. Kommerzialisierung und Vergnügen | 372 | ||
3. Laienheiler und bürgerliche Patienten | 377 | ||
4. Ängste, der fremde Blick und das Eigene | 384 | ||
5. Aberglauben zwischen Land und Stadt | 392 | ||
IX. Bilanz | 396 | ||
X. Quellen- und Literaturverzeichnis | 405 | ||
1. Archivalische Quellen | 405 | ||
2. Gedruckte Quellen (bis 1918) | 415 | ||
3. Zeitgenössische Periodika und Publizistik | 431 | ||
4. Wörterbücher, Lexika, Biobibliographische Hilfsmittel | 431 | ||
5. Sekundärliteratur (nach 1918) | 433 | ||
XI. Anhang | 483 | ||
Personen- und Ortsregister | 491 |