Staatliche Verantwortung für diskursive Integrität in öffentlichen Räumen
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Staatliche Verantwortung für diskursive Integrität in öffentlichen Räumen
Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht, Vol. 104
(2020)
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Tanja Schimmele studierte Rechtswissenschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen mit dem Schwerpunkt Öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Umwelt. Während des Studiums war sie u.a. als Werkstudentin bei der Daimler AG beschäftigt. Ihre Erste juristische Prüfung absolvierte sie im Jahre 2017. Im Anschluss folgte die Promotion während der Tätigkeit als Wissenschaftliche Angestellte am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht und Völkerrecht von Prof. Martin Nettesheim. Seit Oktober 2018 ist sie Referendarin am Landgericht Stuttgart.Abstract
Im Zentrum dieser Arbeit steht die Beobachtung, dass insbesondere in der netzwerkbasierten Kommunikation Entwicklungen auftreten, die Irritationen hervorrufen. Angesprochen sind damit die Phänomene der Fake News, Social Bots und Hate Speech. Die Frage, wie mit diesen Kommunikationsphänomenen umgegangen werden soll, ist zum politischen Streitthema mutiert. Angesichts der liberalen Grundordnung der deutschen Verfassung erscheint insoweit eine besondere Sensibilität geboten.Gerade deshalb verschafft sich diese Arbeit einen breiten Zugang zum Thema. Denn oftmals bleibt unklar, woran sich ein Beobachter der Kommunikationskultur genau stört. Sie bettet die Diskursphänomene in den verfassungsrechtlichen Kontext ein und wirft die Frage auf, ob sich aus den verfassungstheoretischen und -dogmatischen Grundentscheidungen des Grundgesetzes Ansätze gewinnen lassen, die eine Verantwortung des Staates, sich diesen Diskursphänomenen im Wege einer Regulierung anzunehmen, nahelegen.»State Responsibility for Discursive Integrity in Public Spaces«The communication phenomena of fake news, social bots and hate speech dominate the discussion about the network-based communication culture. It is often forgotten that regulation in this area touches on fundamental principles of the liberal German constitution. The work approaches the question of regulation with the necessary sensitivity and analyses the basic decisions of constitutional theory and dogmatics with regard to possible solutions.
Table of Contents
Section Title | Page | Action | Price |
---|---|---|---|
Vorwort | 5 | ||
Inhaltsverzeichnis | 7 | ||
Abkürzungsverzeichnis | 13 | ||
Erstes Kapitel: Einführung | 17 | ||
A. Einleitung und Problemstellung | 17 | ||
B. Gang der Untersuchung und Erkenntnisinteresse | 20 | ||
Zweites Kapitel: Phänomenologie der Debattenkultur und die Multidimensionalität öffentlicher Räume | 24 | ||
A. Beobachtung von Diskursphänomenen | 25 | ||
I. Fake News, alternative Fakten und das Postfaktische Zeitalter | 25 | ||
1. Renaissance statt Neologismen | 27 | ||
2. Anspruch an Wahrheit | 28 | ||
a) Wahrheit oder Wahrheiten | 29 | ||
b) Konstante oder Variable | 30 | ||
c) Ethische Dimension | 31 | ||
3. Brauchbarkeit der Termini: Kampfbegriffe statt Rechtsbegriffe | 33 | ||
II. Shitstorm, Hate Speech und Cybermobbing | 34 | ||
III. Social Bots als Beispiel für algorithmengesteuerte Informationsvermittlung | 35 | ||
1. Funktionsweise von Social Bots | 36 | ||
2. Einsatzfelder von Social Bots | 37 | ||
3. Verengung der Diskursräume | 37 | ||
IV. Begrenzung des Untersuchungsgegenstands: Die Integrität öffentlicher Diskurse in Frage stellende Phänomene | 38 | ||
B. Multidimensionalität öffentlicher Räume | 40 | ||
I. Interpretationsmodelle öffentlicher Räume | 40 | ||
1. Physisch-reale Raummodelle | 41 | ||
2. Mediales Raummodell im virtuellen Umbruch | 42 | ||
3. Zwischenergebnis | 44 | ||
II. Kriterium des Öffentlichen | 44 | ||
1. Öffentlich als Staatlichkeit | 44 | ||
2. Öffentlich als allgemeine Zugänglichkeit | 45 | ||
3. Öffentlicher Raum als Kommunikationsraum im Lichte der freiheitlichen Kommunikationsverfassung des Grundgesetzes | 47 | ||
4. Zwischenergebnis | 49 | ||
III. Begrenzung des Untersuchungsgegenstands: Öffentliche Räume | 49 | ||
Drittes Kapitel: Maßstäbe für die Neubewertung der Anomalien in öffentlichen Diskursverläufen | 52 | ||
A. Integrität als Maxime in öffentlichen Räumen | 52 | ||
I. Deutung von Integrität im öffentlichen Diskurs | 53 | ||
II. Integritätsverlust und Integritätserwartungshaltung | 54 | ||
B. Gesellschaftlicher Wandel | 55 | ||
I. Sicherheit statt Freiheit | 56 | ||
II. Radikalisierung | 60 | ||
III. Moralisierung und (individuelle) Sensibilisierung | 61 | ||
IV. Zwischenergebnis | 64 | ||
C. Veränderte Typologie von Gefährdungslagen in öffentlichen Räumen | 65 | ||
I. Ursachen für die Entwicklung von Gefährdungslagen | 65 | ||
1. Veränderung der Medienlandschaft | 65 | ||
a) Soziale Netzwerke als Katalysator der Empörungs- und Enthüllungsdemokratie | 67 | ||
b) Bedeutungsverlust oder (versäumter) Bedeutungswandel der klassischen Massenmedien | 69 | ||
2. Staatsversagen und Marktversagen | 71 | ||
3. Externe Zwänge der medialen Berichterstattung | 73 | ||
II. Typologie von Gefährdungslagen | 75 | ||
1. Geschwindigkeit | 75 | ||
2. Perpetuierung | 77 | ||
3. Reichweite | 78 | ||
4. Anonymität | 80 | ||
5. Fazit | 82 | ||
D. Politische Leitideen | 83 | ||
E. Wirkungen und Auswirkungen definierter Teilphänomene | 85 | ||
I. Auf Rechte Einzelner | 85 | ||
II. Auf die öffentliche Meinungsbildung | 86 | ||
III. Auf politische Entscheidungsprozesse | 88 | ||
F. Ergebnis und weiterer Gang der Untersuchung | 88 | ||
Viertes Kapitel: Meinungsfreiheit als Sinnbild der grundrechtlichen Freiheitsidee und zugleich negative Determinante einer staatlichen Verantwortung für diskursive Integrität | 91 | ||
A. Einordnung der Phänomenologie der Debattenkultur in die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes | 92 | ||
I. Wahrheitspostulat im Rahmen der Meinungsäußerungsfreiheit | 93 | ||
1. Fragilität der gespaltenen Auslegung nach Werturteilen und Tatsachenbehauptungen | 94 | ||
2. Wahrheit oder Unwahrheit als subjektives Ergebnis der geistigen Auseinandersetzung | 96 | ||
II. Aggressiver, hasserfüllter Hedonismus als Probe liberaler Kommunikation | 98 | ||
III. Automatisierte Kommunikation als Folge der Digitalisierung | 101 | ||
IV. „Teilen“ und „Liken“ als Meinungsäußerung | 103 | ||
V. Internet – Intermediäre als Grundrechtsträger der Meinungsäußerungsfreiheit | 103 | ||
B. Bisherige Grenzen der Rechtsordnung | 105 | ||
I. Gesetzesvorbehalte des Art. 5 Abs. 2 GG und die Grenzen durch kollidierendes Verfassungsrecht | 105 | ||
II. Sonderfall: Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts | 107 | ||
III. Fazit | 109 | ||
C. Justierung von grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Verantwortung im Rahmen einer Abwägung | 109 | ||
I. Legitimes Regelungsziel zur Unterbindung niederschwelliger Störungen | 110 | ||
1. Gebot ethischer oder moralischer Neutralität im öffentlichen Diskurs | 110 | ||
2. Unterbindung niederschwelliger Störungen zur Wahrung der Konformität als legitimes Regelungsziel und alternative Begründungsansätze | 113 | ||
II. Mindestschutz als Maximalschutz? | 117 | ||
III. Abwägungsdirektiven | 120 | ||
1. Wahrheit oder Unwahrheit nach derzeitigem wissenschaftlich ermittelten Erkenntnisstand | 121 | ||
2. Manipulationsvorsatz und Missbrauch der freien Wahl der Äußerungsmodalität | 121 | ||
3. Äußerungen mit gesellschaftlicher Anstoßfunktion | 123 | ||
4. Prognose hinsichtlich des Eintritts reeller Gefahren für Individuen oder demokratische Entscheidungsprozesse | 125 | ||
5. Blinde Übernahme fremder Äußerungen | 127 | ||
D. Das grundgesetzliche Zensurverbot als äußerste Grenze staatlicher Intervention in öffentlichen Räumen | 128 | ||
I. Querschnitt des Meinungsspektrums anhand herkömmlicher Antagonismen | 129 | ||
1. Vorzensur – Nachzensur | 129 | ||
2. Präventive Zensur – Repressive Zensur | 131 | ||
3. Formelle Zensur – Materielle Zensur | 132 | ||
4. Absolutes Zensurverbot – Relatives Zensurverbot | 133 | ||
II. Intention des Zensurverbots | 133 | ||
III. Befund zum Modifikationsbedarf durch veränderte Kommunikationsräume | 134 | ||
1. Bedeutung des Zensurverbots beim Umgang mit „Private Censorship“ | 135 | ||
2. Faktische Verhinderungswirkungen | 136 | ||
3. Praktikabilität eines Vor- oder Nach-Modells | 137 | ||
E. Fazit: Liberale Rahmenordnung | 138 | ||
Fünftes Kapitel: Verfassungstheoretische und verfassungsdogmatische Begründung von Verantwortungssphären in öffentlichen Räumen | 140 | ||
A. Bedeutung von Verfassungstheorie und Verfassungsdogmatik | 140 | ||
I. Notwendigkeit einer Theorie der Verfassung und die Unterscheidung zur Verfassungsdogmatik | 141 | ||
II. Nutzen einer verfassungstheoretischen Betrachtung | 144 | ||
III. Erkenntnisquellen einer verfassungstheoretischen Betrachtung | 145 | ||
1. Entstehungskontext | 145 | ||
2. Verfassungsvergleichung | 146 | ||
3. Verfassungswirklichkeit | 148 | ||
B. Bedeutung des Verantwortungsbegriffs bei der sphärischen Betrachtung öffentlicher Räume | 149 | ||
I. Verantwortung als Komplementärbegriff der Freiheit | 150 | ||
II. Verantwortung als Konträrbegriff der Freiheit | 151 | ||
III. Bilanz für den zu untersuchenden Verantwortungsgegenstand | 152 | ||
C. Existenz originärer staatlicher Verantwortlichkeiten | 152 | ||
I. Kongruenz von Verantwortung und Aufgabe | 153 | ||
II. Verfassungstheoretische Staatsaufgabenlehre | 154 | ||
III. Ursprünglichkeit als kategoriale Differenzierungsoption staatlicher Aufgaben | 156 | ||
IV. Dogma der Allzuständigkeit des Staates | 159 | ||
V. Legitimationsgrundlagen staatlicher Aufgaben und positive Initiatoren staatlicher Verantwortung | 161 | ||
VI. Grenzen des demokratischen Verfassungsstaats | 167 | ||
VII. Zusammenfassung der Ergebnisse | 169 | ||
D. Verantwortung für die Struktur der Diskurse in öffentlichen Räumen | 170 | ||
I. Diskursive Integrität als konstitutives Element eines demokratischen Verfassungsstaats | 171 | ||
1. Aus normativer Sicht | 171 | ||
a) Demokratie als formales Modell zur Erzielung größtmöglicher Freiheit – Erkenntnisse der Demokratietheorie Hans Kelsens | 172 | ||
b) Grenzenlose Freiheit – Erkenntnisse der Idee eines reinen Liberalismus | 174 | ||
c) Demokratie als Veranstaltung eines öffentlichen Diskurses – Erkenntnisse der deliberativen Demokratietheorie Jürgen Habermas’ | 175 | ||
d) Demokratie als gesellschaftliche Verantwortung – Erkenntnisse des Kommunitarismus | 178 | ||
2. Aus empirischer Sicht | 180 | ||
3. Perspektiven einer staatlichen Reaktion auf den diskursiven Status quo | 182 | ||
4. Demokratie unter dem Grundgesetz | 183 | ||
a) Richtungsvorgaben des Bundesverfassungsgerichts | 184 | ||
b) Streitbare Demokratie als Mittel zur Gewährleistung diskursiver Integrität? | 187 | ||
c) Mentalität der verfassungsrechtlichen Demokratie gegenüber diskursiver Integrität | 190 | ||
d) Gesellschaftliche Diskursverantwortung als „metarechtliche Verfassungserwartung“ | 191 | ||
II. Gewährleistung der Authentizität demokratischer Entscheidungsprozesse mittels diskursiver Integrität | 193 | ||
1. Freiheit der Wahl | 193 | ||
2. Chancengleichheit der Parteien | 195 | ||
III. Objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension | 195 | ||
1. Diskursive Integrität als Element einer Werteordnung | 197 | ||
2. Schutzpflichten der staatlichen Gewalt | 198 | ||
a) Universalität der Schutzpflichtenlehre und Atypik der Forschungsfrage | 199 | ||
b) Potenzielle verantwortungsbegründende Schutzgüter | 202 | ||
aa) Aufrechterhaltung einer funktionierenden Kommunikationsordnung | 202 | ||
bb) Positive und negative Informationsfreiheit | 206 | ||
cc) Staatlicher Schutz vor privater Abschreckung | 209 | ||
3. Diskursive Integrität als Voraussetzung der Grundrechtsausübung | 210 | ||
4. Gemeinwohlverträglicher Grundrechtsgebrauch als „metarechtliche Verfassungserwartung“ | 213 | ||
IV. Verfassungstheoretischer Methodenkanon in der Funktion der Antithese | 214 | ||
1. Einwand des Entstehungskontextes: Staatliche Gewährleistung diskursiver Integrität als unerwünschte Form staatlichen Paternalismus | 215 | ||
2. Einwand der Verfassungswirklichkeit: Private Akteure als Motor der Kommunikation | 219 | ||
V. Vorläufige Bilanz: Bedingte politische Freiheit ohne verfassungsrechtliche Pflicht | 221 | ||
Sechstes Kapitel: Zur Gebotenheit und Ausgestaltung rechtspolitischer Maßnahmen | 223 | ||
A. De lege lata: Rechtsgebiete mit überindividueller, integritätsfördernder Steuerungswirkung im öffentlichen Diskurs | 223 | ||
I. Mittelbare Steuerungswirkung | 224 | ||
1. Kartellrecht | 224 | ||
2. Datenschutzrecht | 226 | ||
3. Vertragsrecht | 227 | ||
4. Strafrecht | 228 | ||
II. Unmittelbare Steuerungswirkung des Medienrechts – Fehlende Durchschlagskraft für Äußerungen von und in sozialen Netzwerken | 229 | ||
III. Die jüngste Antwort des Gesetzgebers: Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz | 231 | ||
IV. Bewertung de lege lata | 233 | ||
B. Relevanz von „soft law“ | 233 | ||
I. Instrumente freiwilliger Selbstkontrolle | 234 | ||
II. Bewertung der vorhandenen „soft law“ | 238 | ||
C. De lege ferenda: Rechtspolitische Perspektiven | 239 | ||
I. Internationale (Negativ)-Vorbilder | 240 | ||
II. Zukunft der Harmonisierung oder Differenzierung | 242 | ||
III. Was nicht getan werden darf und was getan werden muss – Impulse für den Umgang mit dem Status quo der Debattenkultur | 244 | ||
1. Empirische Erkenntnisse als notwendiges Zwischenziel | 244 | ||
2. Keine Verbotsarchitektur und Aufkündigung der Anonymität im Netz | 246 | ||
3. Vertrauensarchitektur durch Transparenz | 247 | ||
4. Stärkung der Medienkompetenz | 250 | ||
5. Plenum als Vorbild | 252 | ||
IV. Zukunft der „soft law“ oder „hard law“ | 253 | ||
V. Fazit: Rechtspolitik als Spiegel der verfassungsrechtlichen Direktiven | 255 | ||
Siebtes Kapitel: Zusammenfassung in Thesen | 257 | ||
Literaturverzeichnis | 271 | ||
Stichwortverzeichnis | 315 |