Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam
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Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam
Schriften zur Rechtstheorie, Vol. 208
(2002)
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Abstract
Die vorliegende Arbeit ist die erste umfassende Untersuchung in deutscher Sprache, die sich der sunnitisch-islamischen juristischen Methodik und Rechtsquellenlehre in systematischer Absicht zuwendet. Der Verfasserin geht es darum, normative Systemzusammenhänge und Charakteristika islamischer Rechtsquellenlehren herauszuarbeiten, so wie sie sich für arabischsprachige muslimische Autoren und Adressaten heutzutage üblicherweise darstellen, auch wenn diese $ade facto$z unterschiedlichen Rechtsordnungen angehören. Zwar darf islamisches Recht nicht mit dem Recht islamischer Staaten verwechselt werden, doch ist die Scharia in islamischen Ländern und vielen arabischen Staaten Ausgangspunkt, Grundlage und Maßstab der Beurteilung. Als solche beansprucht sie auch zukünftige Geltung.Die Autorin rekonstruiert die Entwicklung des islamischen Rechts von den Anfängen bis zur Gegenwart. Sie folgt dabei den Eigendeutungen und den (Selbst-) Periodisierungen des tradierten wie des zeitgenössischen Rechtsdenkens aus der Binnenperspektive des islamischen Rechtssystems. Der begriffliche Rahmen und das von ihr entwickelte Verfahren gestatten ihr einen hinreichend weiten wie detaillierten Blick auf das Gesamtgefüge approbierter Rechtsquellen. Im Zentrum stehen dabei vor allem diejenigen Rechtsquellenlehren, die einem tradierten Verständnis folgen. Diese Orientierung am Mainstream zeitgenössischen islamischen Rechtsdenkens schließt jedoch gewisse Neuerungen nicht aus. Insgesamt zeigt die vorgestellte Literatur einen hohen Grad an Reflektiertheit und Flexibilität.Zu den Zielen dieser Untersuchung gehört es auch, dem unter westlichen Betrachtern verbreiteten Zerrbild einer vermeintlich apodiktischen, wenig differenzierungsfähigen Scharia und ihrer Jurisprudenz zu begegnen, das nun wirklich nicht der Wahrheit entspricht. So kann sie u. a. zu dem Ergebnis gelangen, daß es im Bereich der juristischen Methodik, $aformal$z gesehen, mehr Gemeinsamkeiten mit der westlichen Jurisprudenz gibt, als gemeinhin angenommen wird. Dies gilt auch eingedenk der Tatsache, daß zwischen islamischem und westlichem Recht, $arechtsinhaltlich$z betrachtet, vielfach radikale Unterschiede bestehen, die man in Rechnung zu stellen hat.
Table of Contents
Section Title | Page | Action | Price |
---|---|---|---|
Vorwort | V | ||
Inhaltsverzeichnis | XV | ||
Einleitung | 1 | ||
Erster Abschnitt: Genese und Geltungsgrundlagen des islamischen Rechtssystems | 12 | ||
§ 1 Islamisches Recht in der Frühzeit | 12 | ||
1. Gesetzgebung zur Zeit Muhammads | 16 | ||
a) Göttliche Herabsendung von Gesetz und Recht | 16 | ||
b) Gesetzgebungsmacht und Rechtsquellenlage | 18 | ||
c) Eigenheiten der Jurisprudenz zur Zeit Muhammads | 20 | ||
2. Vom iğtihād des Propheten | 21 | ||
a) Muhammad als eigenständiger Schöpfer von Recht? | 21 | ||
b) Irrtümer und Fehler Muhammads bei der Ausübung seines iğtihād | 22 | ||
c) Propheten-iğtihād als Rechtsquelle | 24 | ||
3. Normative Wirksamkeit der Prophetengefährten (ṣaḥāba) | 25 | ||
a) Iğtihād-Befugnis der Prophetengefährten zu Lebzeiten Muhammads | 27 | ||
b) Relevanz von Meinungsstreitigkeiten unter den ṣaḥāba | 30 | ||
c) Eigenheiten, Errungenschaften und Stellenwert der Gesetzgebung zur Zeit der Rechtgeleiteten Kalifen | 33 | ||
§ 2 Konstitution und Phasen islamischer Jurisprudenz | 46 | ||
1. Errungenschaften der Nachfolger | 46 | ||
a) Kennzeichen und Merkmale der formativen Phase | 47 | ||
b) Entwicklung und Verfälschung des Hadith | 49 | ||
c) Rechtliche Willkür | 53 | ||
2. Blüte und Entwicklung der islamischen Jurisprudenz | 54 | ||
a) Juristen und Jurisprudenz unter der Obhut der Abbasiden | 55 | ||
b) Verschriftlichung und Fixierung von Sunna und Recht | 57 | ||
c) ,Freie' Rechtsfindung (iğtihād) | 59 | ||
3. Schulen islamischen Rechts und Eigenheiten ihrer Methodologie | 62 | ||
a) Malikiten | 63 | ||
b) Hanafiten | 64 | ||
c) Schafiiten | 66 | ||
d) Hanbaliten | 69 | ||
§ 3 Stagnation, Erstarrung und Neubeginn islamischen Rechtsdenkens | 70 | ||
1. Zeitalter des taqlīd | 70 | ||
a) Voraussetzungen und Gründe für den taqlīd | 74 | ||
b) Merkmale taqlīd-gestützter Jurisprudenz | 77 | ||
2. Islamisches Recht in der Moderne | 79 | ||
a) Entwicklungstendenzen und neuer Aufschwung islamischen Rechts | 79 | ||
b) Wandel und Umbruch im islamischen Recht des gegenwärtigen Zeitalters | 82 | ||
Zweiter Abschnitt: Primärquellen des islamischen Rechtssystems | 87 | ||
§ 4 Koran als Rechtsquelle | 87 | ||
1. Merkmale, begriffliche Bestimmung und normative Definition des Korans | 87 | ||
a) Koran als Wort Gottes und schrittweise Offenbarung seines Inhalts | 88 | ||
b) Arabischer Koran und Probleme seiner Übersetzung | 91 | ||
c) Authentizität des Korans und seiner Lesarten | 95 | ||
2. Unversehrte Herabsendung und Fixierung des Korans auf Dauer | 98 | ||
a) Korrekte Aufnahme und Anordnung der Verse und Suren | 99 | ||
b) Schriftliche Fixierung des Korans auf Erden | 100 | ||
3. Geltung und Beweiskraft (ḥuğğiyya) des Korans | 104 | ||
a) Heiligkeit des Korans und koranisches Wunder als Beweise seiner göttlichen Herkunft | 105 | ||
b) Normative Aspekte und Konsequenzen des koranischen Wunders | 106 | ||
4. Rechtliche Bestimmungen des Korans | 108 | ||
a) Kategorische und präsumtive Bestimmungen | 110 | ||
b) Verhältnis von allgemeinen und speziellen Bestimmungen im Koran | 111 | ||
c) Rechtliche Regelungsbereiche des Korans | 112 | ||
§ 5 Prophetensunna als Rechtsquelle | 115 | ||
1. Ausdrucksformen und Regelungsbereiche der Sunna | 115 | ||
a) Begriffliche Bestimmung und normative Definition der Sunna | 115 | ||
b) Formen normativer Äußerungen des Propheten | 116 | ||
c) Gegenstandsbereiche der Sunna | 118 | ||
2. Belege für die Beweiskraft der Sunna | 121 | ||
a) Koranische Begründung der Sunna | 121 | ||
b) Normative Eigenständigkeit und Selbstbegründung der Sunna | 125 | ||
c) Gegner der Sunna als Rechtsquelle | 129 | ||
3. Formen der Überlieferung authentischer Sunna | 134 | ||
a) Sunna mutawātira | 135 | ||
b) Sunna āḥādiyya | 141 | ||
c) Sunna mašhūra | 149 | ||
§ 6 Koran und Sunna als komplementäre Formen islamischen Rechts | 151 | ||
1. Normative Verbindung von Koran und Sunna | 151 | ||
a) Bestätigende Sunna | 152 | ||
b) Verdeutlichung, Begründung und normative Konkretisierung des Korans durch Sunna | 154 | ||
c) Schweigen des Korans | 156 | ||
2. Abrogation (nasḫ) von Rechtsbestimmungen im Rahmen der Scharia | 160 | ||
a) Begriffliche Bestimmung und Einordnung | 160 | ||
b) Belege für die Existenz von nasḫ im Rahmen der Primärquellen | 162 | ||
c) Arten und Bedingungen normativer Abrogation | 170 | ||
3. Relevanz von Offenbarungsgesetzen im Vorfeld von Koran und Sunna | 172 | ||
a) Definition von šarʿ man qablanā | 174 | ||
b) Verhältnis des Islam zu vorislamischen Offenbarungsreligionen und ihrer Gesetzgebung | 175 | ||
c) Erwähnung nichtislamischer Regeln in Koran und Sunna | 177 | ||
Dritter Abschnitt: Sekundärquellen des islamischen Rechtssystems | 182 | ||
§ 7 Sekundäre Rechtserzeugung im Rahmen der Scharia | 182 | ||
1. Konsens (iğmāʿ) als abgeleitete Rechtsquelle | 182 | ||
a) Konsens als dritte der allgemein anerkannten Quellen | 182 | ||
b) Autorität und Anwendbarkeit des iğmāʿ | 184 | ||
c) Legitimation und normative Bedingungen des iğmāʿ | 193 | ||
2. Analogie (qiyās) als abgeleitete Rechtsquelle | 203 | ||
a) Begründungen der Autorität des qiyās | 206 | ||
b) Bestandteile und Bedingungen der Analogie | 214 | ||
§ 8 Rechtlich geschützte Interessen, Ziele und Zwecke (maqāṣid) als normative Orientierungspunkte | 223 | ||
1. Notwendigkeit göttlicher Anleitung zur Erkennung schützenswerter Interessen (maṣāliḥ) | 224 | ||
a) Religionsrechtlich unterschiedliche Einstufung und Regelung von Interessen | 224 | ||
b) Rechtliche Anerkennung und kategoriale Unterscheidung von Interessen | 227 | ||
2. Dreistufigkeit rechtmäßiger Interessen | 229 | ||
a) Notwendigkeiten und Grundwerte der islamischen Lebensordnung | 229 | ||
b) Islamisches Recht als Mittelweg der Verwirklichung bedürfnisorientierter Interessen | 232 | ||
c) Anerkannte Interessen als Optimierungs- und Vermeidungsgebote | 234 | ||
3. Prinzipien, Maximen (qawāʿid) und Regeln des Umgangs mit diversen Interessenlagen | 237 | ||
a) Interessenorientierte Prinzipien, Maximen und Regeln | 237 | ||
b) Exemplarische und typische Gemengelagen von Rechtsgütern und Interessen | 238 | ||
§ 9 Rücksichtnahme auf sonstige Interessen und Belange | 242 | ||
1. Schariatrechtlich nicht ausdrücklich geschützte Interessen (maṣāliḥ mursala) | 242 | ||
a) Meinungsstreitigkeiten bezüglich der maṣlaḥa mursala | 243 | ||
b) Argumentation bei der Erörterung des Für und Wider von istiṣlāḥ | 247 | ||
c) Bedingungen und Schranken der Berücksichtigung ungeschützter Interessen | 254 | ||
2. Blockieren rechtmäßiger Handlungen und Mittel im Hinblick auf deren Voraussetzungen und Folgen (sadd al-ḏarāʾiʿ) | 261 | ||
a) Abgrenzung gegenüber den muqaddimāt und den ḥiyal im Rahmen des Schariatrechts | 263 | ||
b) Rechtmäßigkeit des Abstellens auf die Mittel (ḏarāʾiʿ) im Meinungsstreit der Gelehrten | 266 | ||
c) Sadd al-ḏarāʾiʿ als Quelle und Prinzip islamischen Rechts | 274 | ||
3. Präsumtion der Fortgeltung einer Rechtslage oder eines früheren Zustands (istiṣḥāb) | 279 | ||
a) Istiṣḥāb als Grundlage von Maximen, Prinzipien und Regeln des Rechts | 280 | ||
b) Arten des istiṣḥāb | 283 | ||
c) Istiṣḥāb-Prinzip als Hilfsquelle und Mittel der Rechtsbildung | 285 | ||
4. Gewohnheitsrecht (ʿurf) | 291 | ||
a) Arten von ʿurf | 294 | ||
b) Ableitung und Begründung des Gewohnheitsrechts | 302 | ||
c) Rechtscharakter des ʿurf und Abgrenzung gegenüber anderen Rechtsquellen | 305 | ||
5. Recht und Billigkeit (istiḥsān) im Islam | 313 | ||
a) Begriff, Bestimmung und Arten von istiḥsān | 313 | ||
b) Legitimation von Billigkeitserwägungen im Streit der Lehrmeinungen | 318 | ||
Vierter Abschnitt: Islamisches Recht, Rechtsgewinnung und normative Richtigkeit von Fall zu Fall | 327 | ||
§ 10 Hat jeder Muğtahid recht (Hal kull muğtahid muṣīb)? | 327 | ||
1. Verhältnis von Wahrheit und Richtigkeit bei der Beantwortung religiös-rechtlicher Fragen | 330 | ||
a) Einheit von Wahrheit und Richtigkeit bei theologischen Grundsatzfragen (masāʾil ʿaqliyya oder kalāmiyya) | 331 | ||
b) Einheit von Wahrheit und Richtigkeit bei rechtstheoretischen Fragen (masāʾil uṣūliyya)? | 334 | ||
c) Definitiv als richtig erwiesene rechtspraktische Antworten (masāʾil fiqhiyya qaṭʿiyya) | 335 | ||
2. Idee der einzig richtigen Entscheidung in nicht definitiv erwiesenen rechtspraktischen Fragen bei der muḫaṭṭiʾa | 337 | ||
a) Grundsatzposition | 337 | ||
b) Argumente der muḫaṭṭiʾa | 339 | ||
c) Meinungsstreit innerhalb der muḫaṭṭiʾa bezüglich der Erkennbarkeit des richtigen Rechts | 341 | ||
3. Negation der Möglichkeit einzig richtiger (wahrer) Entscheidungen durch die muṣawwiba | 343 | ||
a) Grundsatzposition | 343 | ||
b) Vertreter der muṣawwiba im einzelnen | 344 | ||
c) Argumente der muṣawwiba | 345 | ||
4. Relevanz der rechtlichen Debatte um die Fehlbarkeit des Muğtahid | 347 | ||
a) Mangelnde Richtigkeitsgewähr bei der Bestimmung der Gebetsrichtung nach Mekka (al-iğtihād fī al-qibla) als religionsrechtliche Metapher | 347 | ||
b) Relative Richtigkeit der Argumente und Begründungen | 349 | ||
c) Funktionale Erwägungen, Konsequenzen und Vorzüge der taḫṭiʾa | 350 | ||
§ 11 Iğtihād-Reglementierungen und Rechtsgewinnung im Einzelfalle | 353 | ||
1. Iğtihād-Monopol der Gelehrten | 353 | ||
a) Auskunftspflicht und normative Verantwortung der Gelehrten | 353 | ||
b) Vorbedingungen und Zugangsbarrieren des iğtihād | 359 | ||
c) Kompetenzstufen und Teilbarkeit des iğtihād | 365 | ||
2. Kollision von Rechtsnormen (taʿāruḍ al-adilla) | 372 | ||
a) Konkurrenzen und Normenkonflikte innerhalb des Systems der Rechtsquellen | 372 | ||
b) Definition und Gegenstandsbereich des taʿāruḍ | 375 | ||
c) Lösungsmodelle (marātib) zur Abwehr von Normenkonflikten | 378 | ||
3. Änderung und Aufhebung von Rechtsmeinungen | 383 | ||
a) Subjektiver Sinneswandel des muğtahid | 384 | ||
b) Rechtliche Bestimmungsmacht und normative Verbindlichkeit von Fatwas | 386 | ||
c) Aufrechterhaltung oder Revision von Urteilen | 388 | ||
§ 12 Pflichten und Rechte des juristischen Laien im Hinblick auf die erforderliche Rechtsgewinnung im Einzelfalle | 390 | ||
1. Grundsätzliche Fragepflicht des Gläubigen | 390 | ||
2. Positive und negative Formen des taqlīd | 392 | ||
a) Übertragene Bedeutungen von taqlīd | 393 | ||
b) Rechtlich approbierte Form des taqlīd | 395 | ||
3. Person des muqallid | 398 | ||
a) Muß der Laie taqlīd üben | 398 | ||
b) Darf der muğtahid taqlīd üben | 400 | ||
4. Rechtsschulwesen und Richtigkeit der Auskunft | 401 | ||
a) Orthodoxie im Rahmen der vier sunnitischen Rechtsschulen | 401 | ||
b) Maḏhab-Wahl versus maḏhab-Pflicht | 405 | ||
5. Kriterien der Auswahl des richtigen Mufti | 409 | ||
a) Kompetenz und persönliche Qualifikation | 409 | ||
b) Prüfung der Qualität des Mufti | 411 | ||
c) Die Qual der Mufti-Wahl, al-fāḍil wal-mafḍūl | 413 | ||
Resümee und Ausblick | 415 | ||
Schrifttumsverzeichnis | 421 | ||
Personen- und Sachverzeichnis | 449 |